Alles auf Anfang

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Das Merloz-Anwesen war ein Geisterhaus nach Lincolns Geschmack.

Es bot einfach alles. Die eingefallene, doch schmuckvolle Fassade eines uralten Gebäudes. Die unheimliche Szenerie des dunklen Moors im Hintergrund. Die sanft wogenden Blätter der umstehenden Bäume im Wind. Und nicht zu vergessen: Eine mit mächtigen Eisenketten versiegelte Tür.

Hier würde alles seinen Anfang nehmen. Hier würde Lincoln sich seinen Weg hin zu Regin, Fulham und den anderen ebnen – und selbst Geisterjäger werden. 

Geister – das waren 'Ethereale'. Wesen des Ethers, der Welt des Übernatürlichen, die sich der Seelen ahnungsloser Bürger bemächtigten und nach deren Tod in deren Gestalt die verbliebenen Angehörigen terrorisierten. Die Eingangstür aus dunklem Nussholz, das vom einfallenden Mondlicht des Vollmondes in ein milchiges weiß getüncht war, würde sein Einfallstor in jene Welt des Übernatürlichen sein. Jene Tür, die ihm bisher immer verwehrt wurde.

Er spürte das raue Metall an seinen Fingern reiben, als er den zu einem Metall-Kreuz geformten Eisenschlüssel aus seinem Mantel holte. Der robust gefertigte Eselsleder-Mantel, der ihm bis kurz über die Knie reichte - eine der zwei Hinterlassenschaften seines verstorbenen Großvaters, Zeit seines Lebens einer der größten Geisterjäger der Geschichte und Lincolns absolutes Vorbild.

Zumindest bis zur zweiten Hälfte der Geschichte, als er all das wegwarf und mordend und tobend durch die Straßen von Greenwich zog. Lincolns Familie nicht ausgenommen. So zumindest lautete die Geschichte. Doch was war eine Geschichte schon, als ein paar abgedruckte Worte auf einem Blatt Papier, über die die Menschen ganze Welten halluzinierten?

Lincoln legte den Kopf zurück und atmete tief durch. Die gelockten, schwarzen Haare, kitzelten ihm über den Nacken. Die durchscheinend grünen Augen schlossen ihre Lider für einen kurzen Moment der Konzentration.

Siebzehn. Siebzehn Jahre hatte es gedauert an diesen Moment zu kommen. Er hatte Freunde, Schulkameraden, jung wie alt kommen und gehen sehen, während er stets in Devlin zurückblieb. 

Er hatte gesehen, wie sie ihre Ausbildung begannen und wie Regin und die anderen von fertigen Jägern auf ihre ersten Aufträge begleitet wurden. Bald würde endlich auch er dazu gehören, dank der uralten Regeln seiner Zunft, der sich selbst Fulham nicht verwehren konnte! Er musste dazu nur einen Geist bannen. Irgendeinen.

Er öffnete die Augen.

Vor ihm erstreckten sich zu beiden Seiten einige vergitterte Fenster, deren Gläser sich an den Rändern im einfallenden Mondlicht spiegelten. 

Die alten Gravuren, die sich quer über die Außenwände des barocken Anwesens schnörkelten, gaben einen Hauch des einstigen Glanzes wieder. Das angrenzende Moor, das versteckt hinter einem dicht bewachsenen Wäldchen lag, spielte mit jedem Windhauch eine schaurige Melodie, ein disharmonisches Pfeifen der Blätter. 

Ohne Zweifel: Lincoln hatte den perfekten Ort gefunden. 

Die Aufzeichnungen, die er sich vom alten Fulham bei einem seiner Wutanfälle flugs vom Schreibtisch geborgt hatte, hatten nicht zu viel versprochen.

Lincoln konnte seine Zufriedenheit kaum verbergen. Einen Arm in die Hüfte gestemmt, zündete er mit dem Zippo seines Großvaters ein Räucherstäbchen an und steckte es in die Dielen vor der Eingangstür. Ein leises Husten ertönte, als Lincoln den starken Duft nach Pflaume und einigen anderen ätherisch wirksamen Duftstoffen einfing.

Die Geste war keineswegs zufällig. Zum einen war es natürlich eine Möglichkeit, dem Geist sämtliche Fluchtwege abzuschneiden, indem man die Umgebung mit aberhunderten Räucherstäbchen auskleidete; doch für Lincoln - der nur ein einziges davon anzündete - war es viel eher eine Botschaft.

Eine Botschaft, die den hier hausenden Geist spüren lassen sollte, dass er es nun mit einem Jäger zu tun hatte. 

Mit einem abgebrühten Profi, bei dem man besser keine Tricks versuchen sollte. Denn kein Geist entkam der Bannfalle eines echten Jägers, wie Lincoln einer war. 1️⃣

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1️⃣ Ok, Stop! Wer bitte glaubt denn das Gesülze? Das alles entspricht natürlich nicht der Wahrheit. Nicht ganz. Nicht zu jener Zeit, versteht sich. Wer ich bin? Ihr dachtet doch wohl nicht etwa, dass so ein halbgares Bürschchen die einzige Persönlichkeit in dieser Geschichte ist! Tja, falls doch, muss ich euch leider enttäuschen, doch das werdet ihr schon noch früh genug bemerken.

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