Penny - 2

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„Wo gehen wir hin?", fragte Lincoln als sie die Wendeltreppe verließen und in einen langen Korridor traten.

„Pscht!", herrschte Penelope ihn an. „Wir wollen doch nicht, dass Vater das hier mitbekommt! Lass dich einfach überraschen. Ich denke, das wird dir gefallen, Geisterjäger."

Lincoln rollte die Augen und betrachtete weiter die Bilder an den Wänden. Die Merloz' mussten wirklich eine lange Familiengeschichte aufweisen. Alle paar Meter gab es ein neues Gemälde mit neuen bärtigen Patriarchen auf Stühlen und schick angezogenen Familienmitglieder um sie herum. Sie schienen einst wohl einflussreiche und bedeutende Leute gewesen zu sein. Komisch, dass er noch nie von Ihnen gehört hatte?

„Oh ich bin schon so aufgeregt!", flüsterte Penelope unangenehm nahe in sein Ohr. Lincoln zuckte zur Seite und betrachtete sie mit einem abschätzigen Blick. Seitdem sie hier heraufgegangen waren, hatte er an zwei unterschiedlichen Gelegenheiten Pennys Körper schweben gesehen. Sie selbst schien das aber nicht weiter zu stören. Nein, sie schien sich damit zu begnügen die Abwesenheit ihrer Füße bei solchen Manövern abzutun oder sich nicht an sie zu erinnern. Lincoln wusste nicht welcher Effekt hier am Werk war, der das verhinderte, doch er ging ihm ganz schön auf den Geist.

Er seufzte abermals, als er bemerkte, dass das einfallende Mondlicht immer schwächer wurde – er daher kaum noch etwas sehen konnte. Doch zum Glück hatte er für solche Fälle bereits vorgesorgt. Oder vielmehr: Elena hatte es.

„Wart mal kurz", sagte Lincoln und bedeutete Penelope stehenzubleiben. Diese tat wie geheißen und schwebte ein Stückchen zurück. Ihre Beine verschmolzen dabei zu einer Art Nebel ab der Hüfte abwärts. Noch so eine Sache, auf die er sie bereits höflich aufmerksam gemacht hatte. Er grollte immer noch etwas, dass sie ihn ausgelacht hatte, als er behauptet hatte, sie wäre ein Geist.

„Ja, was ist?", fragte Penny.

„Ich sehe nichts mehr. Es ist zu dunkel."

Penelope blickte verwirrt umher. „Ich weiß nicht, was du meinst... Kann es vielleicht sein, dass du doch... von der Bratpfanne"

Lincoln fluchte: „Zum letzten Mal, mir geht's gut! Du bist hier diejenige, die ihre Realität verweig- ach lassen wir das"- er winkte ab-„ich muss nur schnell diesen Trank hier nehmen."

Lincoln zog ein etwa daumengroßes Trankfläschchen aus dem Innenfutter seiner Tasche. Es war klein, tropfenförmig und fasste sicherlich nicht mehr als zwanzig Milliliter.

„Oh!", Penelope ließ einen laut des Erstaunens aus und betrachtete Lincoln aufmerksam.

Lincoln betrachtete die blass violette Flüssigkeit – Elenas Nachtschatten. Nicht ohne eine gewisse Genugtuung beförderte er den Korken mit einem leisen *plopp* aus dem Trankfläschchen. Augenblicklich machte sich ein angenehm nach Mandarine duftender Geruch vor seiner Nase breit. Er wollte schon zum Trinken ansetzen, zögerte jedoch noch.

Was sagte Elena noch gleich, wie viel man davon trinken musste? Hatte sie überhaupt einmal etwas dazu gesagt?

Nach kurzem Grübeln kam er zu dem Schluss, dass sein begrenztes Wissen über ätherische Tränke ihm sowieso nicht zu einer sinnvollen Antwort gereichen würde. Somit blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig, als den ganzen Inhalt blindlings hinunterzuschütten. Zumindest konnte er bei Elenas Trank darauf zählen, dass der Effekt hielt, was er versprach. Selbst, wenn er das nur ungern zugeben würde.

Lincoln setzte das Fläschchen an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Zu seiner endlosen Enttäuschung schmeckte der Trank kein bisschen nach Mandarine, sondern eher wie abgestandene Bananenmilch.

Wahh, schmeckt das scheußlich!"

Er verzog angewidert das Gesicht. Warum ausgerechnet etwas so scheußlich schmeckendes wie abgelaufene Bananen das stärkste, ätherisch wirksamste Ingredienz sein musste, war ihm schleierhaft. Generell hatte er den Zusammenhang zwischen Obst und Magie nie ganz verstanden. 1️⃣

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1️⃣Generell gilt: Fast alles Obst ist magisch wirksam. Nicht umsonst heißt es bei den Menschen immer: "Kindchen iss stets dein Obst und Gemüse!" Äpfel beispielsweise wenden nicht nur die meisten niederen Gespenster, sondern auch Irrwichte und sogar Doktoren ab!

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Die Wirkung des Tranks setzte bereits nach wenigen Sekunden ein. Erst bemerkte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ihm wurde furchtbar schlecht und er verlor beinahe das Gleichgewicht, hätte er sich nicht gegen die nahe Wand stützen können.

Er spürte deutlich, wie sich die Intensität seines Herzschlages mit jedem Pochen steigerte, bis es in kurzen Abständen im Crescendo schlug. Zu allem Überfluss begannen ihm auch noch die Augen furchtbar zu jucken und zu tränen. Er wand seinen Kopf hin und her, während er sich die Augen rieb, im Versuch das Brennen zu stoppen. Seine Umgebung verschwamm, als wäre sie von einem Strudel erfasst worden.

Die Dunkelheit des endlos langen Korridors wich mehr und mehr einem dunklen kobaltblau, bevor sich schließlich im ganzen Raum Farbkleckse bildeten und anwuchsen, bis sein gesamtes Sichtfeld hell und in Farbe getaucht war.

So schnell wie es gekommen war, verschwanden die Effekte auch wieder. Sein Herzschlag beruhigte sich, seine Sicht war klar wie am Tag und... Lincoln hielt sich den rumorenden Magen. Und ihm war weiterhin furchtbar schlecht. Verdammt seist du, Elena! Du und dein ekelhafter Bananen-Trank! Wenigstens konnte er jetzt sehen.

Urgh, weiter geht's", sagte er. Penelope sah ihn halb belustigt an, sagte jedoch nichts. Die Beiden setzten ihren Weg fort.

„Hier wären wir."

Penelope zeigte auf ein nacktes Stück Wand, dass wie der Rest des Korridors mit einer eingefallenen roten Tapete mit Kronen-Muster verziert war. „Du wirst gleich Augen machen, sag ich dir!"

„Eine... Wand?" Lincoln sah sie fragend an, dann erblickte er die unscheinbar platzierte Kerzenhalterung, die an der Wand ein Stück daneben angebracht war. Etwas klickte in seinen Gedanken. Er trat darauf zu, umfasste den Griff des Leuchters und drückte nach unten.

Eine kleine Schicht Staub rieselte aus der Wand und offenbarte eine Geheimtür.

„Oh, ja. In der Tat sehr beeindruckend. Eine Geheimtür."

Penelope verzog das Gesicht. „Du wirkst aber nicht sehr beeindruckt? Und woher hast du das gewusst? Hast du- hast du sowas öfter?"

Lincoln zuckte mit den Schultern. „Zum ersten Mal eigentlich. Aber die Geschichte mit dem Kerzenhalter und der Geheimtür in der Wand - ziemlich ausgelutscht, findest du nicht?"

Penelope zog eine Schnute. „Ich habe mehrere Jahre gebraucht, den zu finden..."

Lincoln zuckte bloß mit den Schultern. „Gut, dann wollen wir mal nachsehen, was sich so Spannendes darin verbirgt. Mein Gefühl sagt mir, das der Geist schon ganz nah ist." Er zwinkerte ihr kaum merklich zu, doch Penelope war viel zu aufgeregt, um seinen Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen.

„Also dann", sagte er. „Alter vor Schönheit"

Penny funkelte ihn an. Zum ersten Mal glaubte er etwas wie Abneigung in ihrem Gesichtsausdruck festzustellen.

„Du zuerst."

„Wie du willst", Lincoln drückte die Tür nach innen auf und trat in den Raum.


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