Wo... war er? Er konnte sich an nichts erinnern. Er drehte sich hin und her, machte ein paar Schritte nach vor und zurück. Überall nichts als schwarz. Er befand sich in einem schier endlosen Dunkel. Keine Konturen. Keine Formen. Kein gar nichts. Es war, als hätte jemand ein Fass schwarzer Tinte über der Welt ausgegossen.
Wenigstens hatte er einen Boden unter den Füßen. Lincoln hüpfte. Seine Füße trafen auf Widerstand. Zumindest war er wohl nicht im Fallen begriffen. Oder?
Er schritt blindlings in die Dunkelheit hinein und tastete nach etwas greifbarem.
Er hielt abrupt inne.
Seine Nase meldete sich plötzlich. Sie hatte etwas aufgeschnappt! Einen Geruch!
Es roch modrig und feucht, wie ein Haufen abgestandenes Holz, dass man zu lange im Regen gelassen hatte. Oder eher, wie ein Nadelwald im Regen. Doch da war noch etwas. Etwas, das ihn in der Nase kitzelte. Etwas Vertrautes. Schwefel?
Er brauchte Licht. Wo hatte er sein... Ja natürlich!
Lincoln griff in seine Manteltasche und suchte nach dem Zippo, dass ihm dereinst sein Großvater vermacht hatte.
Er lächelte, als er über die kunstvoll eingearbeitete Gravur des magischen Zeichens fuhr, dass auf der Vorderseite des Metallgehäuses angebracht war und dem Feuerzeug seine ungewöhnliche magische Kraft gab.
Triumphierend hielt der das Feuerzeug mit ausgestrecktem Arm von sich und betätigte den Zündmechanismus bis zur ersten Einrastung.
Der metallene Deckel klappte auf und eine winzige, bläuliche Flamme materialisierte sich darunter. Das Licht der Flamme war warm, doch ihr Licht erhellte nichts. Es war, als hätte man die Flamme einfach hingemalt. Die Form der Flamme verharrte starr in ihrer Tropfenform. Regungslos, so als würde sie nicht existieren.
Unbehagen machte sich in ihm breit. War er hier in einem Traum?
In diesem Moment blitzte ein Bild vor seinem Auge auf. Ein Bild eines Anwesens. Eines Geistes. Und einer Tür.
Natürlich! Er musste durch die Tür, um wieder zum Anwesen zu gelangen und seinen ersten Geist einzufangen. Und er musste sich aus irgendeinem Grund beeilen. Die Tür! Wo war die Tür?
Lincoln hastete ohne Rücksicht auf die Dunkelheit in eine Richtung davon – die Arme wild herum rudernd, bis er hart auf etwas stieß und zurückprallte.
Lincoln wurde unsanft mit dem Hintern auf den Boden bugsiert. Er rieb sich die schmerzende Stirn und richtete sich auf.
Seine Finger fuhren über etwas Robustes. Er klopfte dagegen. Holz. Er war tatsächlich auf die Eingangstür gestoßen! Lincolns Bauchgefühl hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Oder aber er hatte einfach nur dummes Glück.
Egal. So oder so war er seinem Ziel nahe!
Lincoln tastete über die Tür und suchte nach der Klinke. Lincoln suchte immer energischer, doch er fand nichts, bis...
Eine Erhebung? Nein, eine Figur. Ein Kopf. Etwa handtellergroß und mit Schnauze. Spitze Ohren. Gab es hier Katzenliebhaber?
Er runzelte die Stirn. Keine Klinke, dafür eine dekorative Figur auf der Tür. Wer designte denn solch nutzlose Türen?
Nun, wer es auch war, er hatte was als Nächstes geschah selbst zu verantworten. Lincoln trat heftig mit dem Bein dagegen. Kein Erfolg. Die Tür stand immer noch an ihrem Platz. Womöglich gäbe es einen anderen Mechanismus; wenn er doch nur etwas sehen könnte!
Er betrachtete die gemalte Flamme in seiner Hand. Vielleicht war die Flamme nicht stark genug, um durch die Dunkelheit zu dringen. Vielleicht, wenn er sie verstärken konnte...
Er hatte keine Zeit mehr. Er musste zurück! Lincoln holte tief Luft und entspannte seinen Geist in der Vorbereitung ein Zeichen zu wirken. Sein gesamter Fokus lag auf der Flamme.
Igni!
Als wäre sie durch Eis gebrochen, zuckte die Flamme zweimal heftig hin und her, bevor sie in ein gleichmäßiges Flackern überging und ihr Licht aussendete. Etwas rumorte in der Ferne. Lincolns Unbehagen wuchs. Irgendetwas sagte ihm, er sollte sich hier nicht aufhalten.
Die Figur des Löwenkopfes betrachtete ihn aus hohlen, mit Holz gefüllten Augen. Ihr aufgerissenes Maul und die Zähne machte den Eindruck, er wäre im Angriff begriffen. Die Schnauze des Löwen schien bei genauerem Hinsehen allerdings falsch.
Die für gewöhnlich etwas hervortretende Löwenschnauze wirkte zugleich zu kurz und zu breit, was den Eindruck erweckte irgendjemand habe sie mit einem schweren Hammer eingedepscht.
Besonders merkwürdig fand er jedoch die Stirn- und Augenpartie der Figur. Sowohl die Falten, der tief in die Furchen gezogenen Stirn, als auch die der Augenlider selbst, waren eigentümlich scharf umrissen. So sehr, dass Lincoln auf den ersten Blick wohl gar nicht sagen hätte können, dass es sich bei dem Löwenkopf um ein bloßes Gebilde handelte. Er hob die Flamme des Zippos näher an die Furche, die zwischen Auge und Stirn verlief und strich mit dem Finger über das Lid des linken Auges.
Etwas bewegte sich. Er fühlte es an seinen Fingerspitzen, bevor seine Augen es registrierten.
Lincoln schreckte zurück.
Das Lid des geöffneten Auges offenbarte eine katzenartig geformte Pupille, die von einer grell-gelben Iris umgeben war. Lincolns Haut prickelte. Er fühlte sich wie versteinert. Sämtliches Körper-Gefühl schien aus seinem Bewusstsein herausgesaugt zu werden; wohin wusste er nicht.
Lincoln fühlte sich in eine Art Trance versetzt. Regungslos beobachtete er, wie das Auge vor ihm langsam anschwoll, immer größer wurde; erst auf die Größe eines Hauses, dann eines Turmes, bis es irgendwann nahezu Lincolns gesamtes Sichtfeld umhüllte. Das stechende gelbe Licht der Iris, dass ihn nun einhüllte, war wie eine Sonne. Sein Blick verschwamm in ihrem Angesicht. Die schwarze Pupille wand- und kräuselte sich in Lincolns Wahrnehmung.
Lincoln fröstelte.
Bilder schossen in seinen Kopf. Erlebnisse und Szenen, die in der Vergangenheit lagen, die aber so echt wirkten, als würden sie jetzt gerade direkt vor ihm stattfinden.
Er sah seinen besten Freund Regin, wie sie am Fluss die Ausführung von Zeichen übten. Fulham, wie dieser ihm genervt die Wunden verband, nachdem er sich nachts allein in den Wald geschlichen hatte...
Ein älterer Mann – sein Gesicht kaum mehr als ein Schatten – erschien vor ihm.
Der Mann wippte friedlich in einem Schaukelstuhl vor sich hin. Er saß inmitten einer Bibliothek, umgeben von Büchern und las daraus vor. Lincoln sah ein Kind. Sein jüngeres Ich. Der Junge saß direkt davor und lauschte den Geschichten seines Großvaters aufmerksam. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt.
Die Schatten um das Gesicht seines Großvaters verschwanden. Sie bildeten sich zu einer Fratze, die mit Spitzen, weiß hervorstehenden Reißzähnen ausgestattet war. Lincoln wollte den Jungen warnen. Er wollte seinem jüngeren Ich etwas zurufen, doch der Junge war zu vereinnahmt von der Geschichte.
Er schrie nun schon beinahe. Mit großen Augen beobachtete der Kleine das Buch, während sich sein Großvater verwandelte...
Lincoln erfasste die Panik. Er schrie aus allen Kehlen. Doch der kleine Lincoln bewegte sich nicht. Sah er denn die Gefahr vor den eigenen Augen nicht?
Die Augen, er musste die Augen schließen! Der Gedanke durchfuhr ihn wie ein Blitz. Lincoln verstummte augenblicklich. Mit aller Kraft konzentrierte sich Lincoln darauf, die Augen zusammenzukneifen. Der Junge blinzelte. Euphorie und Panik gaben Lincoln die notwendige Kraft. Seine Augen sperrten sich gegen die auf sie einwirkende Kraft des gedanklichen Befehls, als wären die Lider von Metallpfeilern auseinandergehalten worden. Er versuchte alle umliegenden Eindrücke aus seinem Geist zu verbannen und sich nur auf das Schließen seiner Augen zu konzentrieren. Millimeter für Millimeter schoben sie sich voran. Bis...
Schlagartigversiegte die Flut an Bildern. Als wäre ihm ein gedanklicher Stöpsel gezogenworden, strudelten die eben erlebten Bilder aus seinen Gedanken. Er fühlte, wiesein Kopf sich aus der fremden Umklammerung befreite, als er Worte vernahm.
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Ethereals
FantasyEine Geschichte mit Augenzwinkern - bei der man bei manchen Witzen bisweilen auch mal fester zukneifen muss, das und viel mehr ist: Ethereals! *begeisterter trommelwirbel* Gut, nicht nur das, es geht auch um den 17-jährigen Lincoln und seine selbst...