Türen - 1

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Lincoln hatte noch nie einen Geist gejagt, geschweige denn einen gesehen der mehr gekonnt hätte, als ein gemeiner Spuk, dessen Spezialität darin lag wahre Ektoplasma-Ströme auf Böden und Gewänder argloser Anwohner zu erbrechen.

Tatsächlich war er sich nicht im Klaren ob Geister überhaupt dachten. Einige natürlich, waren dazu in der Lage, selbst nach dem Tod einen Teil der früheren Menschlichkeit in ihrer Seele zu bewahren.

Es war gefährlich, doch manchmal konnte man für kurze Momente sogar die Erinnerungen der Verstorbenen hervorholen; gar mit ihm sprechen, bevor der Ethereal übernahm.

Große Persönlichkeiten, einflussreiche Leben in der Geschichte der Menschheit hinterließen manchmal solche Geister. 

Als Kind hatte er immer gehofft, sein Großvater würde einer davon. Er hatte schon damals keine Angst einem Geist gegenüberzutreten - im Gegensatz zu vielen anderen. Doch seine Hoffnung wurde enttäuscht. Lincoln würde wohl Zeit seines Lebens keinen solchen Geist zu Gesicht bekommen. Nicht in Devlin.

Seit dem Tod seines Großvaters, der Lincoln allein und in der Obhut des Chefs der Wache, Tucker Fulhams zurückließ, hatte er keine wirkliche Angst mehr empfunden. Stattdessen sollten die Geister vor ihm Angst haben.

Seinen Vater hatte er nie kennengelernt. Von seiner Mutter existierten nur ein paar Bilder. Sie war schön gewesen, hatte ein sanftes Lächeln - Lincoln mochte besonders ihre feurig-roten Haare. Es gab also keinen Ort, den er Zuhause nennen konnte; mit Ausnahme der Schule vielleicht, in die man ihn steckte.

Früh hatte man ihn in der Devliner Jägerschule gelehrt, sein Ziel nie aus den Augen zu verlieren und im Angesicht eines Geistes weder Schwäche noch Zögern jedweder Art zuzulassen.

Geister reagieren, hieß es da in einer Grundregel der Zunft, auf Unsicherheit und Angst. Sie nähren sich davon. Es macht dich schwach. Es macht sie stark.

Angst hatte Lincoln darum schon in jungen Jahren aus seinem Wesen verbannt, diese nur selten verspürt. Darum würde er auch jetzt keine zeigen. Er würde furchtlos und vor allem entschlossen voranschreiten und sein Gespenst, das erste von vielen, im Zippo seines Großvaters versiegeln und als Geisterjäger in die Hallen der Schule zurückkehren.

Er hatte bewusst das Feuerzeug als Gefäß gewählt. 

Zum einen war es das Lieblings-Werkzeug seines Alten gewesen. Zum anderen hatte er es ausdrücklich Lincoln vermacht. Und zum dritten war es natürlich ganz praktisch Dinge anzünden zu können - was ihm in der Praxis erstaunlich oft recht hilfreich war, wie Lincoln bemerkte.

Für Außenstehende war es wohl auch nicht mehr als das: ein hübsch graviertes, metallenes Feuerzeug.

Doch Lincoln war dabei gewesen, als sein alter Herr voller Enthusiasmus die Idee vorbrachte, eine Bannfalle in etwas so Unscheinbares wie ein Feuerzeug einzubauen. Damals, mit gerade einmal fünf Jahren, konnte er freilich noch nicht viel dazu sagen. Doch er hatte sich nach Erhalt des Zippos sofort an dieses erinnert, das Geheimnis um den Mechanismus der Bannfalle mit den Hinweisen seines Großvaters alsbald entschlüsselt. Einen Mechanismus, den nur er kannte und den er heute zum ersten Mal tatsächlich einsetzen würde.

Bevor er das Anwesen nun endlich betrat, tätschelte Lincoln sicherheitshalber über den Saum seiner Manteltaschen, um zu sehen, ob er auch wirklich alles Nötige dabeihatte. Sein Körper war angespannt, sein Geist in Wallung. Er durfte auf keinen Fall die üblichen dummen Fehler und Missgeschicke machen. Nicht heute, nicht in der Zukunft.

Für diesen Zweck - und weil er dazu neigte, Sachen zu vergessen - hatte er eine Methode entwickelt: der Drei-Punkte-Check! 

Linke Manteltasche, rechte Manteltasche, linke Hosentasche: Eine Packung fein-rieselndes Kochsalz; einen Satz speziell präparierter Badekugeln; extra starkes Klebeband - immer zu gebrauchen. Soweit also alles da.

Gut, jetzt aber wirklich!

Zuerst machte er sich daran, den Schließmechanismus der Kette auszuschalten, die vor die Tür gespannt war und ihm damit noch den Eintritt verwehrte. Er bugsierte den Schlüssel in das Schloss und drehte einmal gegen den Uhrzeigersinn.

Das Schloss klickte auf. 

Zu früh gefreut.

Mit einem scharfen tsisch - Laut löste sich die Kette aus ihrem schlossförmigen Käfig und nutzte ihre neu gewonnene Freiheit ausgerechnet, um laut rasselnd gen Boden zu fallen, wo ihre metallenen Glieder unter lautem Klirren auf die Dielen schlugen. Lincoln meinte noch im Nachbarort die Lichter angehen zu hören.

Lincoln wurde puterrot im Gesicht. 

 Regungslos verharrte er vor der Schwelle. Seine Zähne gruben sich in die Lippen, während der junge Geisterjäger in die Nacht hinein lauschte. Für einen Moment meinte er, etwas zu hören. Doch außer dem entfernten Zirpen einiger Grillen und dem leisen Wogen der Blätter im kühlen Herbstwind konnte er keine verdächtigen Geräusche erkennen. Gut, diese Peinlichkeit hätte ihn auf Ewigkeit verfolgt.

Etwas beruhigter legte er seine Hand auf die rostige, metallene Klinke und drückte sanft nach unten. Nichts regte sich. Er drückte abermals; fester diesmal. Der Türgriff gab nicht nach. Fest gerostet. Fluchend lehnte er sich mit dem ganzen Körper darauf und drückte sich mit ganzer Kraft gegen die Tür.

Unter widerstrebendem Knarzen gab der Mechanismus schlussendlich nach und die Klinke sauste plötzlich nach unten. Die Tür schwang auf; Lincoln taumelte nach vor. Für weitere Flüche blieb keine Zeit: Ein eisiger Luftstoß erfasste ihn und drückte ihm kraftvoll gegen den Rücken.

Lincoln konnte das Gleichgewicht nicht länger halten und torkelte geradewegs auf eine farblose, vom Mondlicht in weiß-grau getünchte Gestalt zu, die etwas in der Hand hielt. Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und holte mit dem Gegenstand aus. Lincoln hob schützend die Arme. Zu langsam. Metall prallte auf Fleisch. Eine Farbexplosion. Dann war alles vorüber.

EtherealsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt