Die Gänsemagd (1)

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Ich riss meine Augen auf. Mein erster Gedanke war: Gott sei Dank, ich bin nicht in der Hölle. Mein Zweiter war deutlich erschrockener und vulgärer, denn ich starrte geradewegs in ein paar nicht menschlicher brauner Augen.

„Sie haben also die nächste geschickt", sprach es – dieses Geschöpf als jemand zu betiteln, wäre falsch gewesen, denn vor mir an der Mauer über einem breiten Torborgen, der offenbar in eine Stadt führte, hing ein Pferdekopf. Der Schimmel betrachtete mich missmutig – falls Pferde das überhaupt können – und ließ seinen Blick an mir auf und abgleiten.

„Die Nächste?", fragte ich irritiert.
„Oh ja", wieherte der Schimmel, „ich habe es auch versucht und scheinbar wurde ihr neben einem magischen Pferd jetzt auch noch dich geschickt."

Ich stemmte die Hände in die Hüften: „Und wie erklärt man ein magisches Pferd vor anderen Leuten?"
„Frag einfach nicht!"
„Und was ist aus dir geworden?"
Es stößt ein Schauben aus: „Vielleicht hätte ich Fragen generell verbieten sollen!"
„Zu spät", gebe ich bloß zurück und blicke das Pferd weiterhin abwartend an.

„Also gut", es schüttelte seine helle Mähne, „ich bin Falada, das Pferd von Prinzessin Gudrun."
„Gibt's einen Spitznamen?"
Mittlerweile verstehe ich, warum die Grimms nie die Namen aufschreiben.

„Wie bitte?"
„Naja", ich zuckte mit den Schultern, „ich steh nicht so auf altdeutsche Namen. Darf ich sie Gudi nennen?"
„Tu, was du willst und lass mich ausreden!"

Was fanden nur alle an Pferden? Falada schien keines von der sympathischen Sorte zu sein. Genervt hörte ich ihm weiter zu, als er fortfuhr: „Die Prinzessin sollte verheiratet werden, also ritten wir zusammen mit ihrer Kammerzofe los. Bei sich trug Gudrun ein Tuch mit drei Blutstropfen, das ihre Mutter ihr gegeben hatte."

„Warte – nur zum Mitdenken – von wem ist das Blut?"

„Von ihrer Mutter natürlich", er verdrehte seine Augen, als sei das das logischste auf der Welt. Selbst wenn es das wäre, müsste einem hier langsam klar sein, dass Logik nicht wirklich wertgeschätzt wurde, wenn man in einem Märchen ist.

Skeptisch hob ich eine Augenbraue: „Was soll das denn bringen?"
„Glück? Egal, das ist nicht der Punkt. Die Kammerzofe weigerte sich ihren Job zu tun und wollte der Prinzessin nichts einschenken, weshalb diese selbst vom Pferd stieg."

„Noch nie was von fristloser Kündigung gehört?", schnaubte ich mehr zu mir als zu Falada, der meine Kommentare mittlerweile ohnehin auszublenden schien.

„Als sie sich zum Wasser beugte, fiel das Tuch mit den Blutstropfen aus ihrem Dekolleté und sie wurde machtlos. Da sprach ihre Kammerzofe, sie solle das Pferd und die Kleider tauschen, denn von nun an sei sie die Prinzessin."

„Und was für eine Macht hatten die Blutstropfen jetzt?"
„Das tut doch nichts zur Sache", entgegnete Falada.
„Irgendwie schon. Ich meine: Die Königin schneidet sich selbst in den Finger – aber für was?"

„Wie gesagt, es tut nichts zur Sache", entgegnete der Schimmel und schüttelte erneut seine Mähne, „die Prinzessin musste schwören, niemandem zu sagen, wer sie ist oder sie würde auf der Stelle sterben. Als wir hier ankamen, machte die Kammerzofe Gudrun zu einer Gänsemagd. Seit diesem Tag muss sie jeden Morgen mit einem kleinen Bengel auf die Felder laufen und kommt jeden Abend erschöpft zurück, während die Hochzeit näher rückt."

Ich konnte ein genervtes Stöhnen nicht unterdrücken: „Lass mich raten, Falada, ich muss dafür sorgen, dass die Wahrheit aufgeklärt wird?"

„Oh ja, und da kommt sie auch schon. Jetzt sei still, ich muss meinen Text aufsagen!", ermahnte er mich und richtete seinen Kopf. Ich schielte am Torbogen vorbei. Zwei Gestalten, umgeben von einer Horde Gänse, kamen uns näher. Eilig machte ich ein paar Schritte zur Seite, um neben der Mauer in Deckung zu gehen. Die vordere Gestalt war ein kleiner Junge, der mit einem roten Hut vorneweg eilte, während sich die junge Frau weiter hinten befand.

Ohne Notiz von mir zu nehmen, eilte der Bursche vorbei und hinaus auf die Wiesen. Die Frau hingegen hielt unter dem Thor inne. Ich hätte schon fast geglaubt, ihr Blick wäre auf mich gefallen, als sie sprach: „Oh du Falada, da du hangest."

Falada machte ein Pferderäuspern, ehe er voller Inbrunst antwortete: „Oh du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüsste, ihr Herz tät zerspringen."

Das war mein Moment – dramatischer könnte es nicht mehr werden! Mehr dachte ich nicht mehr, sondern trat einfach schwungvoll vor.

„Gudi, ich bin hier, um dir zu-!", schon machte sie einen Schritt durch mich hindurch, der mich abrupt verstummen ließ. Wie unhöflich konnte man bitte sein? Wer ging denn einfach DURCH Menschen hindurch, ohne Hallo zu sagen? Überrascht drehte ich mich um: „Guddi?"

Wieder reagierte sie nicht.

Eilig machte ich ein paar Schritte, um zu ihr aufzuholen, aber die Prinzessin lief einfach Stur weiter, so als könnte sie mich nicht sehen. Die Frage war nur: Könnte oder Konnte?

☕︎

Könnte oder Konnte, ist jetzt die Frage...und diese Frage beantwortet sich Freitag! ❤️

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