Die Gänsemagd (2)

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Die Hochzeit rückte immer näher und jeder Tag blieb gleich. Ich erwartete Gudi am Tor, sie ging durch, hütete die Gänse, bis sie am Abend ins Schloss zurückkehrte – so war jeder Tag! Manchmal schlossen sich sogar Wände vor mir, sodass ich ihr nicht folgen konnte oder ich blieb für einen kurzen Moment in Türen stecken – kurz gesagt: Es war ein Desaster!

Als ich an diesem Morgen am Tor Gudi nachblickte, die wieder einmal durch mich hindurch gegangen war und nun das Schloss anzielte, stieß ich ein genervtes Seufzen aus. Es war der Tag vor der Hochzeit – mein vielleicht letzter Tag, um mich vor dem Fluch der Grimms zu retten, indem ich der Prinzessin ihren Arsch rettete.

„Was soll dieser scheiß", fragte ich Falada, der wie immer über dem Torbogen hing. Er wog unsicher seinen Kopf hin und her: „Ich muss gestehen: Damit hätte ich nicht gerechnet!"
„Ich auch nicht", gab ich zu, „was soll ich noch tun?"

Anstelle einer Antwort stieß Falada nur ein unwissendes Wiehern aus. In den letzten Tagen war ich zu einer richtigen Pferdekennerin mutiert – ich hatte ja auch nicht anderes tun können, als mir seine ewigen Monologe anzuhören.

Im Grunde war meine Situation ganz klar: Ich war vollkommen aufgeschmissen.

„Gib mir irgendeinen Tipp", flehte ich, doch anstatt auf seine Antwort zu warten, fuhr ich herum. Da war dieses Gefühl gewesen, wie ein stechender Blick, der sich in meinen Rücken bohrte. Eilig sah ich mich um, bis ich sie fand. Eine junge Frau mit langem dunklen Haar schlenderte in einem teuren Kleid über den Vorplatz. Ich wusste nicht, woran es lag, doch plötzlich war alles wieder da. Vor meinem inneren Auge spielte sich die ganze Geschichte ab, wie ich sie unzählige Male in alten Büchern gelesen hatte. Eine junge Königstochter, die von ihrer Kammerzofe ausgenutzt wurde und jeden Tag als Gänsemagd auf dem Feld ihr goldenes Haar wehen ließ, es aber verstecken musste, wenn sie in den Palast zurückkehrte. Alles war wieder da – sogar das Ende.

Mein Blick hing immer noch an der Fremden. Es war offensichtlich: Vor mir lief die eigentliche böse Kammerzofe entlang und jetzt lag es an mir, dass sie nicht draufging.

Falada, der nicht durch das Tor hindurch zum Palast blicken konnte, sah mich schräg an. Ich hingegen ignorierte ihn und rannte einfach los.

Die Zofe hatte beinahe das Eingangstor erreicht, als ich bei ihr ankam.

„Hi", grüßte ich.
Ihre dünnen Augenbrauen schossen ein wenig in die Höhe: „Ist etwas?"
„Noch nicht, aber bald! Ich bin Alma, deine Retterin!"

Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde nur noch missbilligender – kein Wunder. Noch konnte sie ja nicht wissen, auf was für grausame Weise sie ohne mich sterben würde.

„Ich habe keine Zeit", antwortete sie knapp aber entschieden und lief weiter. Ich ließ mich jedoch nicht abschütteln, sondern hielt mit ihr Schritt: „Glaub mir, wenn du jetzt gehst, wirst du wirklich nicht mehr viel Zeit haben!"

„Was bist du? Eine Bettlerin?"
Wenigstens kein dämonischer Zwerg – ich machte offenbar Fortschritte in meinem Auftreten.
„Nicht wirklich, ich bin eine Helferin in der Not."

„Eine Helferin in der Not?", wiederholte sie gehässig.
„Besser gesagt ‚deine' Helferin in der Not", korrigierte ich mich selbst, „und du brauchst mich."

„Aha, wofür?"
Mittlerweile steuerten wir direkt den Speisesaal an. Erst jetzt fiel mir auf, wie prachtvoll ihr Kleid wirklich aussah. Offenbar gab es irgendeinen besonderen Anlass im Schloss, von dem ich nicht gehört hatte. Plötzlich kam mir wieder Gudis Auftreten in den Sinn. Als sie heute die Weide verlassen hatte, war ihr Kleid nicht so dreckig geworden und ich Haar sauber – beinahe so, als hätte sie gar nicht gearbeitet.

Es war DER Tag!

„Bist du auf dem Weg zu einem Fest?", wollte ich wissen, ohne auf ihre Frage einzugehen.
„Zufällig ja", antwortete sie mit erhobenem Kinn, „der König hat all seine Freunde eingeladen."
„Wie in der Geschichte...", murmelte ich zu mir selbst.

„Bitte was?"
„Nichts von Bedeutung – jedenfalls für dich nicht. Dir wird dort drinnen eine Frage gestellt werden!"

Wir kamen dem Tor zum Speisesaal näher und ich zwang mich dazu, schneller zu sprechen. Wer wusste schon, wann ich in der nächsten Tür stecken blieb!

„Wenn man dich nach der Strafe für jemanden fragt, dann sag-."
„Für wen?"
„Lass mich bitte ausreden!"
„Ich bin eine Prinzessin! Du solltest auf deinen Tonfall Acht geben!"

Oh Gott – Prinzessinnen selbst waren schon eine Nummer für sich, aber Möchtegern Prinzessinnen brachten das Ganze auf ein völlig neues Level!

„Ja, aber nicht mehr lange, wenn du mir jetzt nicht zuhörst!", fuhr ich sie genervt an, „was auch immer du als richtige Strafe erwachtest. Du musst antworten mit: Ich denke, Verbannung wäre angebracht, aber das Leben soll ihr gelassen werden!"

„Ich kann ganz gut selbst-."
„Selbst sterben, ja", unterbrach ich sie – die Tür war nun direkt vor uns, „leben nein, also."

Schon trat sie hindurch. Ich jedoch prallte mit voller Kraft gegen eine Art unsichtbare Wand. Das konnte doch nicht wahr sein! Vor meinen Augen fiel die Tür wieder zu und ich blieb allein im Flur zurück. Kein einziger Blick der angeblichen Prinzessin ging zu mir zurück.

Ich starrte das Holz direkt vor meiner Nase an, aber egal wie sehr ich mich bemühte, ich kam nicht hindurch!
Verfluchte Brüder Grimm, dachte ich genervt und ließ mich auf den Fußboden fallen. Jetzt hieß es wohl warten...

Drei Stunden voller schrecklicher Streichmusik waren vergangen, als plötzlich die Flügeltür aufschwang. Eilig sprang ich auf die Füße. Zwei große Männer zerrten die Zofe hinaus, deren Blick nun mich fand.

„Du verdammte Hexe!", keifte sie, was die Wachen dazu brachte, sie irritiert anzustarren. Kein Wunder, nichts war seltsamer als hysterische junge Frauen, die noch hysterischer eine Schlossmauer anschrien.

„Ich liebe dich auch!", rief ich ihr nach, während die beiden Männer sie weiter durch den Gang führten.
„Du Teufelsweib! Warum hab ich auf deinen Rat gehört?"

Ich erwiderte nichts mehr, sondern lächelte nur selig, während sie die Zofe hinauszerrten. Wahrscheinlich würde sie nie herausfinden, wieso sie sich meine Worte zu Herzen genommen hatte, aber sie wusste schließlich auch nicht, dass sie sich ohne mich selbst zum Tode verurteilt hätte.

Ein wunderschönes Märchen: Der König, welcher den heimlichen Monolog der wahren Prinzessin mit anhört und die Hochstaplerin fragt, was eine angemessene Strafe für ihr Vergehen sei – ohne mich würde meine neue Freundfeindin jetzt einen Berg in einem Fass voller Nägel hinabrollen. Wenn man es so betrachtet, ist das hier wohl wirklich ein märchenhaft schönes Ende...

Doch noch ehe ich einen weiteren Moment allein mit diesem Trumpfgefühl verbringen konnte, hatte ich bereits geblinzelt und die Welt vor meinen Augen verschwand.

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Bald werden wir sehen, wer die nächste Jungfer ist...

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