26. April 1476, Florence
Die warme und sanfte Liebkosung der Sonne jagte einen Stoß neuer Energie durch seinen Körper. Sein göttliches Wesen sehnte sich danach durch diese menschliche Hülle zu brechen und seine wahre Gestalt anzunehmen. Blinzelnd wandte er sein Gesicht zum Himmel empor und für einen Augenblick verlor er sich in dem Gefühl seiner göttlichen Macht. Dieses Gesicht war eine hübsche Maske, aber sein neuer Körper war so schwach im Vergleich zu seiner wahren Natur. Zu schwach.
Mit jeder Faser seines Körpers konnte er spüren wie die Sonne immer höher stieg, weil er seit mehr als dreitausend Jahren die Sonne war und mit jedem Schatten, der seinem Licht weichen musste, fühlte er seine Macht wachsen. Abrupt schlug er die Augen auf und verbannte diesen Teil von sich selbst in den hintersten Teil seines Denkens. Dieses Spiel, was er bis eben gespielt hatte, war sehr gefährlich und sie hatte ihn so viele Male gewarnt nicht die Kontrolle zu verlieren, dass er nun ihre melodische Stimme in seinem Kopf mit ihm schimpfen hörte. Automatisch formte sich in seinem Geist eine neue Symphonie.
Inspiriert von der Schönheit ihrer Stimme schnappte er sich seine Harfe und begann die Symphonie seiner Muse zu spielen. Sie war seine wahre Liebe. Niemals hätte er gedacht, dass er ausgerechnet Liebe in der Liebe selbst finden würde. Ihre Geschichte war um so vieles poetischer als irgendein Dichter auch nur erahnen konnte.
Plötzlich schlug eine Welle des Schmerzes über seinem Körper zusammen, er verlor den Halt und sein Instrument fiel mit einem schrecklichen Krachen zu Boden. Aber das alles spielte mit einem Schlag keine Rolle mehr. Er konnte nicht mehr atmen. Der Schmerz verzehrte jede Faser seines Seins. Sein Herz zerbrach. Sie starb.
In einem kläglichen Versuch die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen stand er auf und versuchte zu laufen. Er musste zu ihr. Er stolperte über seinen Stuhl und wäre beinahe der Länge nach auf dem Boden aufgeschlagen. Im nächsten Augenblick wurde seine Tür aufgestoßen und eine vertraute Silhouette erschien auf der Schwelle.
„Giuliano, was ist mit dir?", wollte Lorenzos entsetzte Stimme wissen. Aber er konnte nicht antworten. Er brauchte seine ganze Konzentration, um sich zu bewegen. Überraschend sanft ergriff Lorenzo seinen Arm und versuchte ihn zurück auf sein Bett zu ziehen.
„Sie stirbt", sagte er und kämpfte gegen den Menschen an. „Ich muss sie sehen"
Sofort wich Lorenzo vor ihm zurück, als hätte er sich verbrannt und das Gesicht des Medici war so voller Schuld, dass die in ihm aufkeimende Wut einen Teil seines Schmerzes vertrieb. Lorenzo wusste es. Er wusste es schon für eine lange Zeit.
„Warum hast du mir nichts gesagt?", schrie er und stieß den erbärmlichen Sterblichen aus dem Weg. Er hatte es so satt nett zu diesem Idioten zu sein. Am liebsten hätte er ihn zu Staub zerfallen lassen, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er musste sie finden. Er konnte sie nicht verlieren. Nicht jetzt, nachdem sie endlich zueinander gefunden hatten. Das Schicksal konnte einfach nicht so grausam zu ihnen sein.Er wusste nicht, wie er es geschafft hatte das Haus zu verlassen oder wie er in Medusas Namen vor ihrer Haustür gelandet war. Ab einem gewissen Punkt hatte er angefangen zu rennen, weil dies das Einzige war, was er sein Leben lang getan hatte. Er war von Zuhause fortgerannt, vor seinem Vater, vor seiner Schwester. Gütiger Eros, selbst vor seinen Gefühlen zu ihr war er davongelaufen. Aber jetzt versuchte er vor seinem Schmerz davonzulaufen. Und vor seiner Angst sie zu verlieren. Sie konnte ihn nicht allein in dieser Welt zurücklassen.
Die Tür wurde geöffnet und er stieß den überraschten Mann aus dem Weg. Natürlich kannte er den Weg. Sein Herz zog ihn zu ihr.
Endlich brach er auf dem Bett neben ihr zusammen. Zärtlich umfassten seine Hände ihr Gesicht und er begann federleichte Küsse auf ihrem wunderschönen Gesicht zu platzieren. Ihre Haut war heißer als der Fluss Phlegethon.
„Du bist gekommen", sagte sie und ihr Lächeln vertrieb seinen Schmerz. Solange sie lebte, war sie nicht verloren.
„Ich kann dich heilen, mein Schatz", flüsterte er und ihr Gesicht verfinsterte sich. Bestimmt schüttelte sie den Kopf.
„Wenn du das tust, wirst du ihn zerstören", brach sie mühsam hervor und ihre Stimme brach vor Schmerz. „Bevor du in seinen Körper geschlüpft bist, hast du Lorenzo das Versprechen gegeben, dass sein Bruder eine zweite Chance zu leben bekommen wird. Brich dieses Versprechen nicht für mich. Du bist kein Lügner. Du musst leben, solange sein Körper deine Anwesenheit ertragen kann. Du musst es nicht für Lorenzo oder Giuliano, noch nicht einmal für mich selbst. Du musst es für dich selbst tun. Zeit spielt für uns keine Rolle, aber für sie schon und wie eine Sterbliche zu leben hat mich gelehrt den Wert jeder einzelnen Sekunde wieder zu schätzen. Erlaube dir selbst zu leben."
„Das werde ich nicht", versprach er. Noch nie in seinem Leben war er so verzweifelt gewesen wie in diesem Augenblick, als er sagte: „Ich kann uns beide retten."
Aber ein Blick auf ihr Gesicht offenbarte die Wahrheit. Sie lag im Sterben und es gab nicht, was er noch tun konnte, ohne sein früheres Versprechen zu brechen. Er musste sie gehen lassen. Sofort entspannte sich ihr Körper, als hätte sie nur darauf gewartet, dass er zu dieser Einsicht käme.
„Ich werde Zuhause deine Rückkehr erwarten", meinte sie lächelnd. Ruckartig setzte sie sich auf und benutzte all ihre Kraft, um ihre sanften Lippen fordernd auf seinen Mund zu pressen. Er verlor sich in ihrer Berührung. Viel zu früh trennten sie sich und sie sank zurück auf ihre Kissen.
„Bitte verlass mich nicht", flehte er sie an. Aber bevor er reagieren konnte, schloss sie die Augen und nahm einen letzten, tiefen Atemzug. Im nächsten Moment spürte er, wie ihr Bund sich von seinem Herzen löste und er wusste, dass sie den Körper der Frau, an den er sich so festklammerte, verlassen hatte. Nach dreiundzwanzig Jahren war sie nach Hause zurückgekehrt. Nun war er wieder allein in dieser Zeit und dieser Welt.
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Immortal Sinners
Historical Fiction1453, Genua. Tausend Jahre sind vergangen, seit das letzte Gebet an Aphrodite gesprochen worden ist. Als sich die junge Witwe Cattocchia Spinola in ihrer Verzweiflung an die Göttin wendet, kann Aphrodite nicht anders als das Gebet zu erhören - auch...