Kapitel 1

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28. Januar 1453, Olymp

Ein Stöhnen entwich ihrem Mund und der Satyr neben ihr zuckte so heftig zusammen, als wäre es allein seine Schuld, dass sie sich zu Tode langweilte. Denn wenn sie könnte, wäre sie schon lange tot. Aber letztendlich war sie die Göttin der Liebe. Sie war die erste und damit älteste olympische Gottheit and auf eine gewisse Weise wäre es ironisch, wenn sie auch als Erste von ihnen sterben würde. Aber ein Gott konnte nicht sterben, sondern sich nur auflösen in... das größte, mythische Geheimnis, von dem sie nicht wusste, was es sein könnte und ob sie es in näherer Zukunft wirklich herausfinden wollte. Ein paar Jahrhunderte zuvor hatte sie ihren treuen Freund Pan mit eigenen Augen auflösen sehen und der Anblick hatte sie bis ins Mark erschüttert. Außerdem konnte und wollte sie sich keine Welt ohne Liebe vorstellen. Also vergrub sie sich seit Jahrtausenden in Arbeit und versuchte ihre sinkende Bedeutung in der Welt der Sterblichen so gut zu ignorieren, wie sie nur konnte. Spielte es für sie eine Rolle, dass die Sterblichen aufgehört hatten zu ihr zu beten? In gewisser Weise ja. Als Gottheit beleidigte sie diese Tatsache zutiefst. Aber letztendlich war es ihre Aufgabe Seelenverwandte zu finden und es könnte sie nicht weniger kümmern, dass das letzte Gebet an sie vor einem Jahrtausend gesprochen worden war. Wahre Liebe fand immer einen Weg und es wärmte ihr das Herz zu sehen, was Liebe erreichen konnte. Sie war einfach zu beschäftigt, um über den Mangel an Gebeten zu jammern wie manch andere Gottheiten. Nur zu gut erinnerte sie sich an die tiefe Sinnkrise ihrer Freundin Athene, als die Athener aufhörten sie zu verehren. Vielleicht hätte Athene mit diesem Umstand auch leben können, wenn ihre Schützlinge sich nicht einem anderen Gott zugewandt und sie vergessen hätten.
Aber natürlich gab es auch Tage, an denen Aphrodite den Effekt des Mangels an Aufmerksamkeit spürte. An diesen Tagen fühlte auch sie sich unnütz und altmodisch, weshalb sie immer wieder in Ares' Armen landete, um sich begehrt zu fühlen.
Die Welt der Sterblichen hatte sie zuletzt vor neunhundert Jahren besucht und alles was sie von ihrem kurzen Besuch noch wusste, war der gewaltige Schock, wie viel sich dort verändert hatte. Natürlich war sie nach dieser Erfahrung neben Ares geendet. Aber in dieser Nacht hatte sie sich selbst versprochen, nicht länger bewusst in die Leben der Sterblich einzugreifen, auch wenn dies in ihrer Situation beinahe unmöglich war. Schließlich war sie noch immer die Göttin der Liebe und wenn sie sich komplett aus der Welt der Sterblichen heraushalten würde, könnten Seelenverwandte nicht zueinander finden, weil sie die Hoffnung und das Vertrauen in die Liebe zuvor verloren hätten. Deshalb hatte sie am nächsten Morgen Eros zu sich gerufen und ihm mehr Arbeit anvertraut. Seitdem arbeitete sie in den Schatten ihres Palasts auf dem Olymp. Mithilfe ihres Spiegels beobachtete und wachte sie über die Sterblichen und schickte Eros zu den jeweiligen Paaren. Den Rest der Arbeit erledigte er. Aber Zuhause zu sitzen und andere dabei zu beobachteten, wie sie Spaß hatten, war auf Dauer unsäglich langweilig und deprimierend. Versteckt in ihrem Palast sah die Göttin der Liebe zu wie Sterbliche ihre wahre Liebe fanden. Diese Geschichten wahrer Liebe zu beobachten ließen sie beinahe vergessen, dass sie ihren Seelenverwandten noch nicht gefunden hatte. Ihre Beziehung zu Ares war schon immer in vielerlei Hinsicht sehr kompliziert. Weil sie von Anfang an gewusst hatte, dass es sich nicht um Liebe handelte, hatten ihre Fähigkeiten sie daran gehindert ihm ihr Herz zu öffnen. Sie mochte ihn und er war wirklich sehr attraktiv. Aber es war keine Liebe, sondern Leidenschaft, die ihr half für eine kurze Zeit der grausamen Realität zu entfliehen. Götter, wie sehr hasste sie sich selbst, weil sie ihn auf diese Weise benutzte. Aber er war der Gott des Krieges. Er war es gewohnt andere zu benutzen, um die Dinge zu erreichen, die er wollte und am Ende nutzte er sie auf die gleiche Weise, wie sie ihn. Aber immerhin vergnügte er sich nicht auch noch mit anderen Göttinnen und Nymphen. Er war nicht nur zu beschäftigt, sondern auch zu loyal, um sie auf diese Weise zu hintergehen. Vielleicht liebte er sie auch auf seine eigene Art, aber es war nicht genug, dass sie beide wahre Liebe füreinander empfinden konnten. Auch seine Mutter Hera wusste dies. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb Hera noch nicht versucht hatte ihrer kleinen Affäre ein Ende zu setzen.
Aphrodite rollte die Augen und gab dem Satyr ein Zeichen weiter zu spielen. Augenblicklich erklang die Musik von Neuem. Aphrodite schloss die Augen und versuchte sich vollkommen auf die Musik zu konzentrieren. Aber es war ja nicht gerade so, als hätte sie dieses Lied noch nie zuvor gehört, also begannen ihre Gedanken zu wandern.
Plötzlich hörte sie ein kaum hörbares Flüstern. Überrascht schlug sie die Augen auf und blickte direkt in den großen Spiegel an ihrer Wand. Er zeigte ihr eine weinende Frau. Cattocchina Spinola. Ihr Ehemann war vor ein paar Monaten in einer großen Schlacht gefallen. Gaspare Cattaneo della Volta war ein Held, der seine schwangere Frau verlassen hatte, um sein Land zu verteidigen. Seinem Land dienend war er gefallen. Ares hatte seinen Kampfstil gemocht. Gaspare und Cattocchina hatten das perfekte Paar gebildet. Sie hatte verstanden, warum er gehen musste und als sie hörte, dass er in der Schlacht gefallen war, hatte sie keine einzige Träne vergossen. Aphrodite hatte nicht verstehen können, weshalb die Sterbliche über den Tod ihres Mannes nicht geweint hatte. Was war nun also der Grund, der diese starke Frau zum Weinen gebracht hatte?
Die verwirrten Blicke der Satyrn und Nymphen ignorierend stand sie auf und trat näher an den Spiegel. Cattocchina saß zusammengekrümmt auf einem Geburtsstuhl und weinte sich die Augen aus dem Kopf.
„Wer auch immer gerade über mich wacht, ich flehe dich an, bitte rette meine Tochter", betete sie und Aphrodites Herz begann in ihrer Brust zu rasen. Ein Gebet. Das erste Gebet, welches nach tausend Jahren des Schweigens wieder an sie gerichtet war. Sie musste dieser italienischen Adligen helfen. Ohne nachzudenken erschien Aphrodite neben der weinenden Frau und legte sanft ihre Hand auf deren Schulter.
„Bitte hör auf zu weinen, meine Liebe", flüsterte Aphrodite einfühlsam und Cattocchina schrak zusammen. Die Sterbliche war so überrascht, dass sie aufhörte zu weinen. Aphrodite zerstörte das Schweigen, indem sie wissen wollte, was mit Cattocchinas Kind geschehen sei.
„Sie ist still auf die Welt gekommen", flüsterte Cattocchina voller Grauen. „Mein wunderschönes Mädchen. Mein Ein und Alles. Ich konnte ihr kein Leben schenken und nun habe ich nichts mehr."
Aphrodite musste nicht ihre Kräfte benutzen, um die Gefühle der Sterblichen zu lesen. Die Frau war voller Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit. Aphrodite war es gewohnt allein zu sein und so konnte sie Cattocchinas Verlust nicht nachempfinden.
„Darf ich sie mir ansehen?", fragte Aphrodite sanft und Cattocchina nickte wie in Trance. Sie begann in ihrem Schmerz unterzugehen. Langsam lief Aphrodite zu der Krippe hinüber und nahm vorsichtig das stille Kind in ihren Arm. Sie war so klein. Waren alle Neugeborenen so winzig?
Aphrodite schloss ihre Augen und konzentrierte sich vollkommen auf das Kind in ihren Armen. Die Kleine war tatsächlich still und der Grund war so schmerzhaft simpel. Sie war ohne Seele geboren worden. Aphrodite seufzte. Es gab nichts, was sie für Cattocchina und ihr Kind tun konnte.
Traurig drehte sie sich um und stellte sich Cattocchina. Die Hoffnung in den Augen der Sterblichen berührten Aphrodites Seele. Tief in Gedanken versunken schaute sie auf das leblose Mädchen in ihren Armen und stupste sanft ihre kleine Nase an. In ihrer Macht stand nur eine einzige Sache, die sie tun konnte.
„Ich kann dafür sorgen, dass du deine Tochter aufwachsen sehen wirst", sagte Aphrodite langsam. „Aber es steht nicht in meiner Macht ihre Seele zurückzugeben. Sie war niemals dazu bestimmt eine zu haben. Wenn du mein Angebot annimmst, wirst du nur ihren Körper besitzen. Ich kann einen Teil meiner unsterblichen Seele in den Körper deiner Tochter fließen lassen. Aber alles, was du von ihr haben wirst, ist die Fassade. Willst du das wirklich?"
„Ich werde alles tun und akzeptieren, um wenigstens einen Teil von ihr weiterhin in meinem Leben zu haben", antwortete Cattocchina feierlich. Aphrodite lächelte und platzierte das stille Mädchen in den Armen ihrer Mutter. Sanft berührte sie Cattocchinas Stirn und der Sterblichen fielen sofort die Augen zu. Schnell veränderte Aphrodite ihre Erinnerungen und sorgte dafür, dass jeder, der das Kind gesehen hatte, davon überzeugt war, dass sie schreiend zur Welt gekommen war.
Aphrodite drückte dem Mädchen einen federleichten Kuss auf die Wange und schloss die Augen.

Cattocchina Spinola wurde geweckt von dem Schreien eines Neugeborenen. Ihres Neugeborenen. Als sie die Augen aufschlug, konnte sie nicht fassen, dass dieses wunderschöne Mädchen in ihren Armen wirklich ihre Tochter war. Weinend vor Glück küsste Cattocchina das kleine Gesicht ihrer Tochter. Die Sterbliche registrierte nicht, dass das Kind in ihren Armen zu perfekt war, um nur menschlich zu sein. Voller Freude nannte Cattocchina ihre Tochter Simonetta. Simonetta Cattaneo.

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