Kapitel 3

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Als er die Augen aufschlug, fühlte er den mittlerweile vertrauten Druck seines sterblichen Gefängnisses. Neu war allerdings der schlanke Arm, der auf seiner nackten Brust lag. Träge blinzelnd drehte er seinen Kopf zu dem Mädchen, das neben ihm lag und war beeindruckt, was für eine Schönheit der Junge vergangene Nacht erobert hatte. Nicht schlecht für eine Sterbliche. Für eine Sekunde spielte er mit dem Gedanken sie zu wecken und selbst zu kosten.
Aber dann erinnerte er sich daran, dass der Bruder des Jungen ihn treffen wollte, damit sie gemeinsam die neue Frau von Marco Vespucci begrüßen konnten. Armes, naives, dummes Mädchen. Marco war homosexuell. Das Mädchen hatte keine Chance jemals in ihrer Ehe mit ihm glücklich zu werden. Natürlich war dies Marcos kleines Geheimnis und er brauchte eine Frau, um seine eigentlichen Sehnsüchte zu verschleiern. Hier brannten Männer wie Marco, wenn sie sie selbst waren. Was für eine verrückte Zeit.
Darauf bedacht das Mädchen nicht zu wecken, entfernte er vorsichtig ihren Arm und stand auf, aber dieses Mal waren seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Plötzlich legte sie ihm von hinten ihre Arme um die Brust und zog ihn zurück auf die Laken.
„Versuchst du dich etwa davonzustehlen wie ein kleiner Sünder, Medici?", flüsterte sie verführerisch in sein Ohr und er vergaß Marco Vespuccis neue Frau. Es war Zeit mit dieser Sterblichen ein bisschen Spaß zu haben. Sie bettelte bereits darum.

Befriedigt lief er durch die vertrauten Gassen von Florenz und genoss die kalte, morgendliche Brise in seinem Gesicht. Er war immer noch ein wenig betrunken. Wie viel hatte der Junge letzte Nacht nur gesoffen? Es war ein Wunder, dass er überhaupt gerade gehen konnte. Der Junge hatte bestimmt wieder bis spät in die Nacht mit seinem Bruder herumgehangen, bis er sich ein neues Spielzeug für die Nacht gesucht hatte. Sterbliche gingen immer so dämlich und sorglos mit ihren Körpern um. Warum tranken sie nur mehr, als sie vertragen konnten? Kannten sie die Folgen ihrer Handlung nicht? Vermutlich liebten sie es einfach zu leiden.
Unter Sterblichen zu leben fing an ihn zu langweilen. Warum hatte er überhaupt zugestimmt dem Jungen zu helfen? Er hatte bereits genug Arbeit mit dem Sonnenwagen und einen freien Tag hatte er seit Jahrhunderten nicht mehr gehabt. Aber war er wirklich so verzweifelt und gelangweilt gewesen, dass ihm ein solcher Plan in den Sinn gekommen war? Die niederschmetternde Antwort war schlicht und einfach: Ja. Ja, er hatte den Medici-Brüdern geholfen, weil er gelangweilt gewesen war und sein eintöniges, endloses, göttliches Leben satt gehabt hatte. Er war ein Gott und es war das erste an ihn gerichtete Gebet seit verdammten tausend Jahren gewesen. Tausend Jahre! Natürlich hatte er es sofort erhören müssen. Der Junge war sein Ausweg aus seinem göttlichen Leben, aber ein sterbliches Leben war auch überfüllt von Verpflichtungen. Die Meisten seiner Tage verbrachte er damit stundenlang in dieser dummen Bank zu arbeiten und zu kalkulieren, bis sein Gehirn zu Brei wurde. Und bekam er damals jemals Dank und Anerkennung vom Vater des Jungen? Nein, die ganze Lobpreisung seiner Arbeit ging direkt an den älteren Bruder des Jungen. Witzig wie ähnlich Sterbliche den Göttern manchmal waren. Er war niemals gut genug für seinen eigenen Vater gewesen, wie sollte da ein schnöder Sterblicher seinen wahren Wert erkennen? Schau dir deine Schwester an, sie ist so gut im Jagen. Deine Schwester ist so talentiert. Das ist mein kleines Mädchen! Hast du gesehen, wie weit ihr Pfeil geflogen ist? Natürlich hatte er es gesehen, er hatte direkt neben ihr gestanden und sein eigener Schuss war genauso weit gewesen wie der ihre. Schnell schüttelte er seinen Kopf, um diese Erinnerungen an seine ersten Begegnungen mit seinem Vater zu vertreiben. Immerhin schien die sterbliche Mutter des Jungen ein kleines bisschen mehr Anteil an dem Leben ihrer Kinder zu nehmen als seine Eigene. Hera hatte ihren Verstand zerstört und der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte, war die kleine, ehemalige Insel, die ihr als einziger Fleck auf der Erde erlaubt hatte ihre Kinder zur Welt zu bringen. War seine Stiefmutter nicht reizend? Aus Eifersucht hatte sie seine Mutter verflucht, sodass sie ihre Kinder nicht an Land zur Welt bringen konnte. Aber hatte Hera Zeus den Rücken gekehrt? Hat sie ihn angeschrien, weil er sie wieder mal betrogen hatte? Nein, natürlich nicht! Weil Hera vor ihrem eigenen Ehemann Angst hatte. Also konzentrierte sie all ihre Wut auf diejenigen, die keine Schuld traf. Zeus hatte seine Mutter vergewaltigt. Kein Wunder, dass sie ihre eigenen Kinder nicht genug lieben konnte, nach allem, was das allmächtige, königliche, unsterbliche Paar ihr angetan hatte.
Immerhin war die Politik der Sterblichen ein klein wenig interessanter als göttliche Politik. Wenn er noch ein einziges Treffen damit zubringen musste, wie Athene und Ares sich gegenseitig anschrien, würde er Aphrodites Beispiel folgen und aufhören zu den Treffen des Olympischen Rates zu gehen. Die Meisten von ihnen waren reine Zeitverschwendung, weil seit tausend Jahren immer wieder das gleiche, dumme Stück aufgeführt wurde. Demeter warf Hades vor, er hätte ihr Persephone „gestohlen". Hades versuchte zugleich seine unsterbliche, wahre Liebe zu Persephone zu beteuern in einem weiteren nutzlosen Versuch Demeter von ihrer Beziehung zu überzeugen. Wie er bereits erwähnt hatte, stritten sich Athene und Ares lautstark darum, wer die bessere Kriegsgottheit abgab. Meistens spielte Artemis irgendwelche Spiele mit Hermes, Hera versuchte mit Hestia zu beratschlagen, wie die angespannte Situation zwischen Hades und Demeter entschärft werden konnte. Poseidon hörte seinen Geschwistern beim Streiten zu und ergriff irgendwann für Hades Partei. Aber der große Herrscher kam wie immer zu spät, weil er zu beschäftigt war einer Nymphe oder einer kleineren Göttin nachzustellen, um pünktlich zu sein. Immerhin konnte er mit seinem kleinen Bruder Dionysos ihr übliches Trinkspiel auf die berechenbaren Handlungen ihrer Verwandten spielen. Di konnte im Gegensatz zu Giuliano mit Alkohol umgehen.
Nun war er also auf dem Rückweg zum Palazzo Medici und er versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, weshalb er sich um den Bruder des Jungen scherte. Dieser Typ erinnerte ihn irgendwie an seinen Vater und das war... sehr komisch, weil er keinen von beiden erwürgen konnte, wenn sie es verdienten. Wenn er den Sterblichen umbringen würde, würde dies zu ernsthaften Schwierigkeiten mit seinem Vater führen, weil er so ziemlich jede einzelne göttliche Regel und jedes göttliche Gesetz in den vergangenen fünf Jahren gebrochen hatte. Den Stress war Lorenzo nun wirklich nicht wert.
Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung und lauschte aufmerksam. Ganz deutlich spürte er etwas Neues. Jemand Neues. Er fühlte die Präsenz einer anderen Gottheit. Eine Welle von Aufregung erfasste ihn. Ein neuer Spieler hatte die Florentinische Bühne seiner ganz eigenen göttlichen Komödie betreten. Seine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. Er freute sich schon darauf die Identität des neuen Gottes oder der neuen Göttin zu entschlüsseln. Seit Jahrhunderten sehnte sich Apollo nach Veränderung, nach etwas Neuem, etwas Aufregendem in seinem Leben. Jetzt war er bereit.

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