Kapitel 27

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Gelangweilt saß Aphrodite auf ihrem goldenen Thron und machte sich nicht einmal die Mühe Interesse zu heucheln. In diesem Moment hasste sie Zeus dafür, dass er die vergangenen Jahrhunderte nicht genutzt hatte, um gemütlichere Sitzgelegenheiten zu erschaffen. Aber vor allem verabscheute sie ihn dafür, dass er die Zeit vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl des Tages mit lauter unwichtigen Dingen zu füllen vermochte, obwohl Aphrodite den Rest dieses kostbaren Tages mit Apollo in ihrer Villa verbringen könnte. So war sie gezwungen vorzugeben, dass seine Nähe keinerlei Wirkung auf sie hatte. Schlimmer, sie musste alle Anwesenden davon überzeugen, dass sie Apollo weder liebte noch sonderlich gut kannte, obwohl sie ihm mit Haut und Haaren gehörte. Doch sie konnten ihre Liebe nicht zeigen, ohne all jene Sterblichen in Gefahr zu bringen, die ihnen in Florenz etwas bedeuteten.
Plötzlich erschien ein Fetzen Papyrus in ihrer Hand. Irritiert blinzelte sie auf die Worte und erkannte auf den ersten Blick Eros' krakelige Schrift.

Komm sofort.

Natürlich wäre es unterhaltsamer gewesen, wenn Eros das gigantische, goldene Portal aufgerissen und vor dem versammelten Rat darauf bestanden hätte, dass Aphrodite augenblicklich diese elend langweilige Sitzung verlassen müsste. Doch hätte er vermutlich den Raum nicht einmal betreten können, ohne dass Zeus ihn sofort in die Tiefen der Unterwelt verbannte.
Aphrodite mochte es nicht, wenn man ihr Befehle erteilte oder von ihr einfach irgendwelche Dinge verlangte, ohne sie ihr näher zu erklären. Aber als sich der Papyrus in ihren Fingern in Luft auflöste, ahnte sie, dass etwas sehr, sehr Wichtiges vorgefallen war und sie keinen Moment länger zögern durfte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie sich nach genau so einer Ausrede gesehnt. Es war besser, ihren Tag mit etwas Sinnvollem ohne Apollo in ihrer Nähe zu füllen, als ihre Energie darauf zu verschwenden ihn zu ignorieren.
Für einen kurzen Augenblick spielte Aphrodite mit dem Gedanken einfach zu verschwinden, indem sie ihre Magie benutzte. Das letzte Mal, als sie dies getan hatte, um Paris vor Menelaos zu retten, hatte Zeus vor Wut beinahe ganz Troja in Schutt und Asche gelegt. Ein Seufzen unterdrückend erhob sie sich in einer fließenden Bewegung von ihrem Thron, strich ihren Chiton glatt und überprüfte den Sitz ihres Peplos. Gerade als sie sich aufrichtete und wortlos den Raum verlassen wollte, drang ein unangenehm vertrautes, aufgebrachtes Räuspern an ihr Ohr. Schweigen legte sich über den Saal. Bedrohlich langsam drehte Aphrodite den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war und blickte gelassen in die kalten Augen des Obersten aller Götter. Eiskalte Wut blitzte in ihnen auf und verfinsterte für einen Wimpernschlag sein attraktives Gesicht. Sofort ertappte sie sich bei dem Gedanken, wie albern dieses Verhalten war, wussten sie doch beide gut genug, dass sein Gehabe sie nie beeindruckt hatte. Als das Schweigen anhielt, fühlte sie sich genötigt fragend eine Augenbraue zu heben. Natürlich reagierte Zeus sofort auf diese kleine Provokation, indem er gereizt ausatmete und seine Nasenflügel wie die eines nervösen Pferdes zum Zittern brachte. Es war so einfach jemanden zu reizen, der derart impulsiv war.
„Die Ratssitzung ist noch nicht beendet. Wohin willst du?", verlangte Zeus mit donnernder Stimme zu erfahren. Im gleichen Moment spürte Aphrodite, wie eine Welle von Furcht und Unbehagen die anderen Götter ergriff. Selbst seine Geschwister, die ihm gegenüber nicht den gleichen Gesetzen unterworfen waren wie seine Kinder, zuckten unmerklich zusammen. Vermutlich stellten sich sogar ihre Haare auf und ihre Herzen schlugen schneller gegen ihre Rippen. In diesen Momenten wurde Aphrodite erneut bewusst, dass sie anders war. Denn sie war nicht nur älter, sondern in all den Jahrtausenden hatte sie es als Einzige der hier zugegenen Gottheiten geschafft Zeus keinerlei Kontrolle über sich zu geben.
„Meine Anwesenheit wird an einem anderen Ort dringender benötigt, oh großer Zeus", antwortete sie zuckersüß und machte sich gar nicht erst die Mühe ihr Desinteresse zu verbergen. „Und wie du sehr wohl weißt, kann niemand diesen Raum betreten oder sich in ihm aufhalten, solange die eigene Seele nicht vollständig ist. Oder hast du dieses technische Problem in den letzten Jahrhunderten behoben? Ach, ich vergaß, dies dient ja nur dem Schutz unseres Rates. Damit niemand bei einer wichtigen Entscheidung abgelenkt werden kann."
Am liebsten hätte sie ihm noch viel mehr an den Kopf geworden und nur weil sie ganz genau wahrnahm, wie Apollos Sorge um sie mit jedem Herzschlag wuchs, schloss sie den Mund. Stattdessen legte sie all diese Dinge, die ihr in der Kehle brannten, in ihren Blick und forderte Zeus stumm heraus. Nur zu deutlich sah sie ihm seine jähzornige Wut an und las direkt aus seinem Herzen, wie gern er ihr befohlen hätte zu bleiben, um vor den anderen Göttern nicht schwach zu erscheinen. Aber er wusste nur zu gut, dass er nicht stark genug war sie zu irgendetwas zu zwingen und so überlegte er fieberhaft, wie er vor den anderen Göttern sein Gesicht wahren konnte.
„Eros hat mich noch nie rufen lassen, wenn es nicht wirklich dringend war", fügte sie sanfter hinzu und bot ihm damit einen Ausweg aus dieser Situation. Unzufrieden presste er die Lippen zusammen und knirschte unmerklich mit den Zähnen. Dann gab er ihr mit einer gereizten Handbewegung zu verstehen, dass sie sich entfernen sollte. Betont dankbar nickte Aphrodite, machte auf dem Absatz kehrt und schritt hoch erhobenen Hauptes aus dem Rat der Götter. Dieser kleine Sieg hinterließ einen bittersüßen Geschmack auf ihrer Zunge. Eine leise Stimme flüsterte in ihrem Geist, dass sie Zeus nicht provozieren sollte. Sobald sich die großen, goldenen Tore hinter ihr geschlossen hatten, spürte sie, wie der Druck von ihren Schultern wich. Plötzlich konnte sie freier atmen. Endlich musste sie sich nicht länger verstellen.
Um nicht noch mehr Zeit unnötig verschwenden, schnippte sie mit dem Finger und fand sich im nächsten Augenblick im Eingangsbereich ihrer Villa wieder. Gerade als sie nach ihm rufen wollte, ertönte seine Stimme und rief sie zu sich. Hastig schluckte Aphrodite ihre Wut darüber herunter, dass er offenbar ohne ausdrückliche Erlaubnis ihr Schlafzimmer betreten hatte. Neugierig eilte sie durch die vertrauten Räume ihrer Villa und betrat schließlich vor Ungeduld zitternd ihr Schlafgemach. Nervös lief Eros in ihrem Zimmer auf und ab. Als sie ihren Fuß auf die Schwelle setzte, drehte er sich erleichtert zu ihr um. Doch seine Augen schienen sie gar nicht richtig wahrzunehmen. So sehr belasteten ihn die Sorgen, wegen derer er sie aus der Versammlung abberufen hatte.
„Etwas Schreckliches ist passiert", wisperte Eros beunruhigt, ergriff ohne weitere Umschweife ihre Hand und zog sie zu ihrem Spiegel. Hastig berührte er das kühle Glas und veränderte mit kleinen Impulsen seiner Magie den Anblick. Neugierig musterte Aphrodite die unbekannten Gärten, die in voller Blüte standen. Als ihr Blick auf die beiden vertrauten Profile fiel, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Fiorettas großen, braune Augen schimmerten voll Hoffnung und Verzweiflung. Die Liebe war fast vollkommen aus ihnen gewichen. Dagegen brach Giulianos Miene das Herz der Göttin. Einen Wimpernschlag wirkte er so frustriert, als würde er sich dem Mädchen anvertrauen wollen. Aber dann riss er blitzschnell die Augen vor Entsetzen auf, als hätte er etwas Wichtiges erkannt. Langsam füllte sich sein Herz mit Trauer und Einsamkeit, doch als er Fioretta wieder ansah, stand seine Entscheidung fest. Die junge Sterbliche verstand sofort und während sich bittere Tränen in ihren Augen sammelten, drängte sich der junge Medici an ihr vorbei und eilte davon. Die Szene löste sich auf und zurück blieb nur ihr eigenes Spiegelbild. Fassungslosigkeit leuchtete in ihren Augen, langsam drehte sie den Kopf Eros zu. Mit belegter Stimme wollte sie von ihm wissen, wann dieser Streit stattgefunden hatte. Ihr Freund seufzte traurig.
„Ich beobachte die beiden schon seit einer Weile, weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass irgendetwas nicht stimmt", berichtete er ernst. „Zunächst haben sie sich jede Nacht heimlich in ihrem Garten getroffen. Doch mit einem Mal hörten die Treffen auf. Jegliche Kommunikation zwischen den beiden kam zum Erliegen und jetzt das. Ich glaube, du weißt ebenso gut wie ich, was das bedeutet. Wir haben es oft genug gesehen und oft genug selbst erlebt, um zu wissen, dass..."
Seine Stimme schwor Erinnerungen herauf, die Aphrodite in letzter Zeit erfolgreich verdrängt hatte. Von ihnen gequält schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf.
„Dass er sie aufgegeben hat und ihre Liebe nicht mehr zu retten ist", beendete sie Eros' Satz und erst als sie es laut aussprach, begriff sie, dass es allein ihre Schuld war. Ohne ihr Eingreifen in das Leben dieser Sterblichen hätten die beiden einander kennen und lieben gelernt. Vermutlich wären sie sogar ihr Leben lang glücklich miteinander geworden.
„Noch ist nicht alles verloren", widersprach Eros leise. Sofort schlug Aphrodite ihre Augen auf und ihre Blicke kreuzten sich. In einem seiner Dialoge hatte Platon seinem Meister Sokrates in den Mund gelegt, dass Eros als Sohn der Göttin des Mangels und des Gottes des Reichtums immer nach den Dingen trachten würde, die er nicht besäße. Somit sei die Voraussetzung des Begehrens das Fehlen der Sache, die man begehrte. Doch in einer Sache irrte Platon sich: Man hörte nicht auf einen Menschen zu begehren, nur weil man ihn einmal besessen hatte. Menschen konnte man nie vollkommen besitzen, denn selbst Sklaven schaffen sich in der Welt ihres Geistes einen Rückzugsort, der nur ihnen allein gehörte und waren somit nie gänzlich der Besitz eines anderen. Aber genau aus diesem Grund war es beinahe unmöglich das Verlangen nach Nähe und Liebe der Person zu stillen, nach der man sich aus tiefster Seele verzehrte. Doch manchmal war Liebe einfach nicht genug.
Aphrodite musste ihn nicht bitten seine Gedanken laut auszusprechen. In all den Jahrhunderten ihrer Zusammenarbeit hatte sie angefangen ihn besser zu verstehen als jede andere Gottheit und so wusste sie ganz genau, worauf er hinauswollte. Ohne fremde Hilfe würde die Beziehung von Fioretta und Giuliano enden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. So wie Aphrodite Giulianos älteren Bruder einschätzte, duldete dieser bestenfalls eine Affäre zwischen den beiden. Vermutlich konnte Lorenzo die Gefühle seines Bruders nicht richtig einschätzen. So oder so wäre er niemals dazu bereit ihnen zu helfen. Schon bevor Apollo in seinen Körper geschlüpft war, hatte Giuliano einen eigenen Kopf besessen und sich gegen die Entscheidungen seines Bruders aufgelehnt, wann immer er es für nötig hielt. Lorenzo kannte den Charakter seines Bruders. Ihm konnte er nichts verbieten und wenn sich Giuliano in den Kopf setzte Fioretta allen Standesunterschieden zum Trotz zu seiner Frau zu nehmen, dann würde niemand ihn aufhalten können.
Fioretta kannte die Göttin der Liebe jedoch kaum. In ihrer Zeit in Florenz waren sie einander nie begegnet. Aber Aphrodite befürchtete, dass Fioretta ihre Gefühle für den jungen Medici wie einen kostbaren Schatz in den Tiefen ihrer Seele vor neugierigen Blicken verborgen hielt. Wie sollte ihr jemand zu Hilfe kommen, wenn niemand um ihre verzwickte Lage Bescheid wusste? Sicher hegten einige Sterbliche in ihrem Umfeld bereits einen Verdacht. Vielleicht hatten Sandros aufmerksame Augen bemerkt, wie sie einander erst zum Leuchten und dann zum Verglühen gebracht hatten. Doch hatte Sandro bereits den Schmerz überwunden, den Aphrodite und Apollo ihm mit ihrer kleinen Scharade zugefügt hatten? War er bereit eine andere Frau an Giulianos Seite zu sehen oder würde er es als Verrat an Simonetta betrachten die beiden zusammenzubringen? Auf Sandros Beistand war kein Verlass. Wenn Fioretta eine Zofe besaß, hatte sie sich vielleicht wenigstens ihr anvertraut. Aber die beiden Frauen lebten in verschiedenen Welten. Eine Zofe konnte ihrer jungen Herrin niemals ein amouröses Abenteuer empfehlen, ohne dabei ihre Anstellung zu riskieren.
Nachdenklich ließ Aphrodite ihren Blick im Raum herumschweifen, bis er schließlich an ihrem Spiegelbild hängen blieb. Womöglich gab es nur eine einzige Person, die in der Lage war den beiden Sterblichen zu helfen glücklich zu werden. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, als sie sagte: „Ich weiß auch schon genau, was zu tun ist."

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