Kapitel 11

71 10 4
                                    

Eine fröhliche Melodie leise vor sich hin summend betrat Apollo Sandros Atelier, welches ihm mittlerweile so vertraut war wie der Palazzo Medici. Seine gute Laune hob sich sogar noch, als er die Göttin ganz in seiner Nähe spürte. Suchend blickte er sich in dem kleinen Atelier um und entdeckte sie sofort. Sie hatte sich bereits umgekleidet und musterte intensiv das unvollendete Gemälde. Zu seiner Freude schien sie vollkommen in Giulianos Anblick vertieft zu sein.
Das feine Lächeln auf seinen Lippen verzog sich zu einem breiten Grinsen. Vor ungefähr drei Tagen hatte sie aufgehört zusammenzuzucken, wenn er einen Raum betrat oder sich ihr näherte. Zwar hatten sie seit ihrem Gespräch über Liebe kein weiteres Wort mehr miteinander gewechselt, aber die Stille zwischen ihnen war schon lange nicht mehr unangenehm.
Mit jeder weiteren Sitzung wirkte sie entspannter und Apollo hatte das Gefühl, dass sie auch unbeschwerter wurde, so als würde sie langsam ihre Angst vor ihm ablegen. Bald würde Apollo mit ihr ohne sterbliche Zeugen sprechen, denn ihre Geschichte interessierte ihn brennend.
„Giuliano, endlich!", rief Sandro erleichtert aus. Erschrocken zuckte Apollo zusammen und wandte seinen Kopf widerwillig dem Künstler zu, der gerade die Treppe herunter kam. Über dem Atelier befand sich eine kleine Kammer, in der Sandro lebte. Das heißt, offiziell lebte und schlief er dort oben, doch in Wahrheit verbrachte er fast sein ganzes Leben hier unten in seinem Studio.
„Ich wurde aufgehalten", entschuldigte Apollo sich lässig und ohne es zu wollen, verglich er das Mädchen, neben dem er diesen Morgen aufgewacht war und mit der er sich bis eben halbherzig vergnügt hatte, mit der getarnten Göttin auf der anderen Seite des Raumes. Mittlerweile war sich Apollo ziemlich sicher, dass seine mysteriöse Göttin keine Jungfrau war. Dafür reagierte sie viel zu erfahren auf seine lahmen Verführungsversuche. Doch ihre Art, wie sie über wahre Liebe sprach, hatte ihn ins Grübeln gebracht. Die Liste seiner Affären war sehr, sehr lang und vor tausend Jahren hätte er ihren Worten aus ganzem Herzen beigepflichtet. Aber mittlerweile war er sich sicher, dass es für ihn niemanden gab, der ihn so erfüllen konnte. Noch nie hatte er auch nur einen Bruchteil der Liebe empfunden, die er in Hades und Persephone brennen gesehen hatte. Doch diese kleine Göttin hatte mit ihrem unerschütterlichen Glauben an die wahre Liebe in ihm den lang verdrängten Wunsch nach etwas Echtem geweckt. Seine ganzen Abenteuer und Eroberungen genügten ihm einfach nicht mehr. Ein Teil von ihm sehnte sich wieder nach mehr als Leidenschaft, die am nächsten Morgen erkaltet war. Apollo wollte brennen wie Hades und Persephone, wie Eros und Psyche, wie Philemon und Baucis. Vielleicht war diese Göttin, die sich in Simonetta Vespuccis Körper verbarg, der Schlüssel zu all diesen Feuern. Ein Blick von ihr genügte und er stand in Flammen. Ein Lächeln von ihr genügte und sein Herz drohte vor Freude überzusprudeln. Was machte sie nur mit ihm? Wer war sie, dass sie solch eine Macht über ihn besaß?
„Zieh dich um, damit wir endlich anfangen können", erwiderte Sandro lachend und gesellte sich zu Simonetta. Obwohl Apollo die Ohren spitze, während er hastig in das äußerst lächerliche Marskostüm schlüpfte, konnte er kein einziges Wort ihrer Unterhaltung hören.
Gelassen schlenderte er zu den beiden und stellte erleichtert fest, dass sie sich nur über das Gemälde unterhielten. Apollo war alles andere als blind. Nur zu deutlich nahm er die Blicke wahr, die Sandro der kleinen Göttin zuwarf, auch wenn sie dessen Interesse nicht zu erwidern schien. Noch nicht.
Mit einem schüchternen Lächeln blickte die kleine Göttin zu ihm auf und öffnete ihren Mund. Sofort erschauderte Apollo vor Vorfreude, endlich ihre liebliche Stimme wieder an ihn gerichtet zu hören. Doch bevor auch nur ein einziges Wort ihre einladenden Lippen verlassen konnte, wies Sandro sie beide an ihre Plätze einzunehmen. Sofort klappte die kleine Göttin ihren Mund zu und huschte mit gesenktem Blick auf das schmale Bett.
So nah bei ihr zu sein und sie nicht wirklich berühren zu können war die reinste Folter für ihn. Als er sich hinter ihr auf das Bett fallen ließ, stieg ihr betörender Duft in seine Nase und vernebelte seine Sinne. Rasch glitt Apollo in seine Rolle als Mars und drapierte sich so, wie Sandro ihn haben wollte und die kleine Göttin nicht spüren konnte, was sie in ihm auslöste. Ein kleines Stöhnen entwich seinen Lippen, als Apollo die Augen schloss und den Kopf nach hinten fallen ließ. Unmerklich neigte sie ihren Körper näher an seinen und die köstliche Wärme, die von ihr ausging, trieb seinen Geist zu den sündigsten Gedanken.
Wie lange sie so dicht an dicht beieinander lagen, konnte er nicht sagen. Doch plötzlich wurde die Tür zu Sandros Atelier geöffnet und alle Wärme wich aus seinem Körper. Die kleine Göttin neben ihm verspannte sich und sofort schoss Apollo auf. Mit einem Ruck öffnete er seine Augen und musterte die zierliche Gestalt neben sich, die voller Entsetzen demjenigen entgegensah, der gerade die Tür hinter sich schloss. Seine vertraute, wilde Aura strich über Apollo und er musste die Zähne zusammenbeißen, um die negativen Gefühle hinunterzuschlucken, die sein Halbbruder in ihm auslöste.
Die kleine Göttin war ihm jetzt so nah, dass er das Zittern ihres Körpers an seiner Haut spürte. Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Rücken. Diese kleine Geste sorgte dafür, dass sie den Blick endlich von seinem Halbbruder abwenden konnte und Apollo direkt ansah. Ihr Mund war halb geöffnet, ihre Unterlippe zitterte stark und ihre Augen waren vor Angst so groß, dass Apollo jedes kleine Detail von Giulianos Gesicht in Simonettas Augen entdecken konnte. Still gelobte er sich, dass er sie vor seinem Halbbruder beschützen würde. Denn auch wenn er die Gründe für ihre Angst nicht verstehen konnte, wollte er nichts mehr, als die Kälte aus ihrem Körper zu vertreiben.
Langsam löste er seinen Blick von Simonettas Gesicht und schaute zu seinem Bruder herüber. Doch auch er hatte sich einer sterblichen Hülle bedient, um weniger aufzufallen. Leise fluchte Apollo und rückte ein kleines Stückchen von der kleinen Göttin ab. Denn mit selbstsicheren Schritten trat niemand anderes als sein Halbbruder Ares in Gestalt von Marco Vespucci auf sie zu.
„Maestro, wie kommt Ihr mit meinem Bild voran?", ertönte Marcos dünne Stimme, die so gar nicht zu Ares kraftvollen Aura passte. Auf Sandros Gesicht huschte ein nervöses Lächeln, während die Göttin neben Apollo aus ihrer Starre erwachte. Mit einem Satz sprang sie von dem schmalen Bett und schritt ohne Hast zu seinem Halbbruder. Keine Faser ihres Körpers verriet die Angst, die sein unerwartetes Auftauchen in ihr ausgelöst hatte. Mit einem Schlag hatte sich ihre Angst in rasenden Zorn verwandelt.
Ohne zu zögern, griff sie sein Handgelenk und zerrte ihn von Sandro und Apollo fort. Aus dem Augenwinkel registrierte Apollo, wie Sandro ihnen verwirrt nachschaute.
„Was tust du hier?", zischte sie Ares an und seine Antwort verhallte ungehört, als die kleine Göttin den Vorhang mit einem Ruck schloss, hinter dem sie sich sonst umzog. Aber sie war so wütend, dass ein kleiner Spalt offenstand, durch den Apollo von seinem Platz auf dem Bett die Szene perfekt beobachten konnte.
Wütend funkelte die kleine Göttin seinen Halbbruder an, der sie selbstgefällig angrinste. Anzüglich legte er seine Hand auf ihre Hüfte und kurz fragte Apollo sich, ob er sich einmischen sollte. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es die Tatsache, dass die kleine Göttin seinen Bruder gewähren ließ. Übelkeit stieg in Apollo auf und mit einem Schlag wünschte er sich mit seinem Halbbruder tauschen zu können. Wie gern würde er Simonettas Körper in seinen Armen spüren.
Mit einem Schlag wurde Apollo klar, dass sein dämlicher und brutaler Halbbruder die Identität der kleinen Göttin kannte. Wenn er nicht so weich liegen würde, hätten seine Knie unter ihm nachgegeben. Mühelos hatte die kleine Göttin ihre sterbliche Rolle abgelegt und zeigte Ares ihr wahres Ich. Kalte Wut breitete sich in Apollo aus. Was hatte sein Bruder nur an sich, dass diese kleine Göttin ihm so blind zu vertrauen schien und ihn so nah an sich heranließ?
Ares sagte leise etwas zu ihr und das Funkeln in seinen Augen schnürte Apollo die Luft ab. Fordernd ergriff Ares Simonettas Kinn und neigte seinen Kopf zu ihr herab. Apollos Inneres gefror zu Eis. Ein Gedanke huschte durch seinen Kopf, aber diese kleine Szene löste so viele hässliche Gefühle in ihm aus, dass der Gedanke ungehört verklang. Bevor ihre Lippen einander berühren konnten, schob die kleine Göttin Ares bestimmt von sich. Ungläubig starrte er mit offenem Mund auf sie herab. Jegliche Selbstgewissheit fiel von ihm ab. Leise redete er auf die kleine Göttin ein, doch ihr Gesicht wurde immer verschlossener und unnachgiebiger.
Apollo hatte solche Szenen schon zu oft erlebt – als passiver Beobachter und als aktiver Teilnehmer dieser Art von Gesprächen. Langsam gewann er die Kontrolle über seine Gefühle zurück und sein Geist klärte sich. Voller Entsetzen verstand er. Die kleine Göttin war die Geliebte seines Halbbruders und fassungslos schaute Apollo zu Sandro hinüber, der mit gesenktem Kopf am Saum seiner Jacke spielte. Konnte es sein, dass Sandro die Wahrheit auf den ersten Blick erkannt hatte? Das konnte einfach nicht sein! Sandro war ein gewöhnlicher Sterblicher. Außerdem hätte Apollo doch ihre Aura wiedererkannt. Nein, Sandro musste sich irren und sein Verstand spielte ihm nur einen Streich. Apollo wusste kaum etwas von Ares und er hatte sich nie wirklich für dessen Liebesleben interessiert. Wahrscheinlich war Apollo einfach nur nicht auf dem neuesten Stand. Dennoch schmerzte ihn der Anblick seines Bruders mit der kleinen Göttin und was Apollo auch tat, er konnte die kleine Stimme in seinem Kopf nicht zum Schweigen bringen.
Bevor Apollo sich sammeln konnte, trat Ares hinter dem Vorhang hervor und verschloss ihn sorgsam, damit die kleine Göttin sich ungestört umkleiden konnte. Ungeduldig trat Ares neben Sandro und ließ sich das Bild erkläre. Natürlich warf Ares ihm einen belustigten Seitenblick zu, als er hörte, dass Apollo ihn mimte. Doch Apollo verdrehte nur die Augen, erhob sich mit einer Anmut, die Ares niemals besitzen würde, von dem schmalen Bett. Leichtfüßig lief er zu Giulianos Kleiderhaufen und verwandelte sich von einer billigen Marsimmitation zu Giuliano de' Medici.
Nachdem er unbekümmert neben Sandro trat und einen Arm um dessen Schulter legte, damit er das Gemälde besser betrachten konnte, fing er den Blick seines Halbbruders auf.
„Ich habe Euch doch gesagt, dass Sandro der richtige Mann für diese Aufgabe ist", unterbrach er Sandros Ausführungen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Ares seinen Aufzug von Kopf bis Fuß.
„Kann ich kurz mit Euch sprechen, Medici?", bat Ares ihn leise, doch in diesem Moment wurde der Vorhang zurückgezogen und Simonetta erschien. Ares wirbelte zu ihr herum und schluckte schwer.
„Dieses Gespräch muss wohl zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden, mein Gemahl", erklärte Simonetta kalt. „Ich bin müde und ich möchte nach Hause"
Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Atelier. Wie zwei Welpen blickten Marco und Sandro ihr hinterher. Bis sich Ares fasste, Sandro und Apollo schwach zunickte und ihr aus dem Atelier folgte.
„Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen", murmelte Sandro geistesabwesend vor sich hin. Dann schüttelte er Giulianos Arm gedankenverloren ab und verschwand wortlos im hinteren Teil seines Studios.
„Brauchst du mich noch, mein Freund?", rief Apollo ihm nach. Sandro versicherte ihm rasch, dass er gehen könne. Erleichtert verließ Apollo das Atelier und stellte überrascht fest, dass die Dämmerung bereits begonnen hatte. Die Zeit lief ihm davon.
Ohne Rücksicht auf Giulianos schwachen Körper zu nehmen, aktivierte Apollo seine göttlichen Kräfte und ließ sich von ihnen zu den beiden Gottheiten führten. Sie hatten Vespuccis Haus beinahe erreicht.
Verzweifelt begann Apollo zu rennen und ignorierte die verwirrten Blicke der Menschen, die ihn als Giuliano erkannten und seine Hast nicht verstehen konnten. Blind für seine Umgebung drückte er Sterbliche aus dem Weg. Allein seine göttlichen Fähigkeiten erlaubten ihm zu sehen, was er sehen wollte. Vor seinem inneren Auge sah er die beiden Vespuccis Haus betreten.
Schwer atmend bog Apollo in eine kleine Gasse und zog sich in einen dunklen Hauseingang zurück. Die kleine Göttin eilte durch ihm unbekannte Gänge, Ares folgte ihr wie ein böser Schatten.
Erst als sie ein Schlafzimmer erreichten, blieb die kleine Göttin stehen und drehte sich langsam zu Ares um.
„Was hast du mit Marco gemacht?", fuhr sie ihn aufgebracht an und Ares zuckte nur mit den Achseln. Vermutlich würde sich der Sterbliche nur daran erinnern, dass er seine Frau aus Sandros Atelier abgeholt hatte. Doch die kleine Göttin gab sich damit nicht zufrieden und verschränkte die Arme vor der Brust.
Mit erhobenen Händen trat Ares zu ihr und lächelte sie traurig an. Leise flüsterte er: „Wir haben uns ein paar Jahre nicht gesehen und plötzlich interessierst du dich wieder für die Gefühle der Menschen?"
Trotzig presste die kleine Göttin Simonettas Lippen aufeinander und funkelte Ares wütend an. Der Anblick raubte Apollo fast den Verstand, aber er unterdrückte die in ihm aufwallenden Gefühle und konzentrierte seine Kräfte auf das Bild in seinem Kopf. Sofort wurden die Farben klarer.
Mit einem Satz packte Ares Simonettas Körper und zerrte sie an den kleinen Tisch. Die kleine Göttin schrie vor Überraschung leise auf, doch bevor sie oder Apollo reagieren konnten, hielt ihr Ares einen Spiegel vor das Gesicht. Vollkommen verwirrt beobachtete Apollo die Szene mit neuem Interesse.
„Sieh genau hinein", befahl Ares kalt und die kleine Göttin leistete wimmernd seiner Aufforderung Folge. „Das ist nur das Gesicht einer Sterblichen, hinter der du dich versteckst. Weder diese Sterblichen noch wir Götter werden dich jemals akzeptieren, solange du dein wahres Ich hinter irgendwelchen Masken verbirgst und falls du glaubst, dass mein kleiner Bruder dir das geben kann, was du dir so sehr wünschst, dann irrst du dich gewaltig, Aphrodite! Mein kleiner, verweichlichter Bruder dreht sich nur um sich selbst und für jemanden wie dich ist in seinem Leben kein Platz!"
Apollo wollte zu ihnen, die kleine Göttin aus Ares Griff befreien und sie zur Rede stellen. Doch in diesem Moment verschwand der letzte Rest Sonnenlicht und er spürte, wie er lautlos und unaufhaltsam in seinen eigenen Körper zurückglitt. Kraftlos kippte Apollo auf dem weichen Gras zusammen und die Szene verschwand vor seinem inneren Auge. Wie hatte er nur so blind sein können?

Immortal SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt