Kapitel 9

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3. Juni 1469

Noch nie in seinem ganzen Leben war er jemals so erleichtert gewesen wie in diesem Moment. Sobald die vertraute Silhouette von Florenz am Horizont erschien, erschien es Apollo, als würde endlich eine schwere Last von ihm abfallen. Für einen Augenblick gab er sich ganz der Bewunderung für die Schönheit dieses Anblickes hin, dann gab er seinem Pferd mit seinen Schenkeln ein Zeichen und fand sich im nächsten Moment schon direkt neben der Kutsche wieder. Ein Paar dunkelbraune Augen begegnete seinem Blick. Clarice Orsini. Lorenzos Ehefrau. Noch immer war Apollo alles andere als glücklich darüber, wie sehr ihn Giuliano mit dieser Reise nach Rom hereingelegt hatte, nur um Lorenzos Frau nach Florenz zu chauffieren. Mehr als einmal hatte er sich darüber gewundert, weshalb Lorenzo sie nicht einfach selbst in sein Haus begleitet hat. Für seine Frau wäre es gewiss um ein Vielfaches angenehmer gewesen und auch für Apollo wäre es unterhaltsamer gewesen. Aber wer war schon Apollo, dass er Lorenzos Entscheidung verurteilte noch ein kleines Weilchen länger seine Freiheit mit seiner Geliebten zu verbringen, anstelle die langweilig ruhigen Straßen Italiens zu bereisen mit einer... mit einer Frau wie Clarice Orsini. 'De Medici, korrigierte er sich selbst automatisch. Von nun an war sie Clarice de'Medici.
Grinsend blickte Apollo auf Clarice herab und nickte in Richtung der Silhouette von Florenz. Sofort huschte ihr Blick zu der Stadt herüber und er nutzte diese Möglichkeit sie erneut genauer zu betrachten. Sie war jung und süß. Sie war noch keine erlesene Schönheit wie Lucrezia Donati, aber Apollo war sich sicher, dass sich dies in einigen Jahren verändern würde. Wenn sie lange genug am Leben blieb. Aber seine prophetischen Kräfte sagten ihm, dass sie zumindest die nächsten zehn Jahre überleben würde. Ihr hellbraunes Haar hatte sie sorgsam unter ihrem langen, blauen Schleier versteckt. Auf ihren Lippen erschien ein gezwungenes Lächeln, wodurch ihre vollen Lippen seltsam schmal wirkten. Im nächsten Augenblick bohrten sich ihre dunklen Augen in ihn. Natürlich war sie von Florenz' Schönheit nicht wirklich beeindruckt und Apollo ertappte sich bei der Frage, ob dies daran lag, dass sie Rom gewöhnt war – eine Stadt, die nicht nur viel älter, sondern auch deutlich berühmter war. Hatte er nicht auf die gleiche Weise empfunden, als er damals nach Florenz kam, um Giuliano zu helfen? Jahrhundertelang war Rom sein Zuhause gewesen, aber dort gehörte er einfach nicht mehr hin. Sein Platz war nun in Florenz und dieses sterbliche Mädchen teilte dieses Los. Sie würde lernen müssen, damit zu leben. So wie er.

Sobald sein Pferd die Stadtgrenze übertrat, drohte ihn die Präsenz der anderen Gottheit zu überwältigen und er musste für einen Augenblick die Augen schließen. Genüsslich kostete er diesen Moment aus und er spürte, wie ihre Magie sanft über seine Wange strich. Grinsend schlug er die Augen auf und versuchte die überraschende Sanftheit ihrer Magie zu verstehen. Einmal als Artemis und er noch sehr jung gewesen waren, hatte seine Zwillingsschwester versucht ihre Kräfte heimlich bei ihm anzuwenden. Apollo war sofort schlecht geworden und auch jetzt erschauderte er bei der Erinnerung an die Kälte ihrer Magie. Doch die Kräfte dieser Göttin, die sich noch immer vor ihm in Simonettas Körper versteckte, waren so zart und sanft, dass er sie beinahe nicht gespürt hätte. Sobald sie ihre Magie zurückzog, blieb nur noch ihr süßer Geschmack auf seiner Zunge zurück.
Bei den Göttern, wie sehr hatte er dieses Gefühl vermisst, welches ihre Anwesenheit in ihm auslöste. Ihre Aura haftete bereits an jeder Ecke von Florenz wie ein Tropfen hochwertiges Parfum an einer reichen Frau. Durch sie wirkte die Stadt plötzlich so viel schöner. Nachdem er sie nun einmal wahrgenommen hatte, fragte er sich immer wieder, weshalb sie ihm noch nie zuvor aufgefallen war.
Ungefähr eine Stunde später schrubbte sich Apollo den Dreck der Reise von seinem Körper. Dies war noch so eine moderne Veränderung, die ihm das Leben in Italien erschwerte. Noch vor ein paar Jahrhunderten hätte er sich in die Thermenanlage der Villa zurückziehen und sich für ein paar Stunden nach allen Regeln der Kunst von den Sklaven des Hauses verwöhnen lassen können. Der Palazzo der Medici besaß noch nicht einmal eine Toilette mit fließendem Wasser. Was für ein Verlust!
Doch bevor er sich seinen Tagträumen von längst vergangenen Zeiten hingeben konnte, riss ihn ein leises Klopfen aus seinen Gedanken. Genervt legte Apollo den Lappen aus der Hand und überlegte, ob er sich ein frisches Hemd anziehen sollte. Doch er fühlte sich noch immer so verdreckt, dass er sich dagegen entschied.
Mit langen Schritten lief er zur Tür und öffnete sie. Auf der Schwelle stand Lorenzo und starrte ihn so erschrocken an, als hätte er noch nie die nackte Brust seines Bruders gesehen. Betont erschrocken sah Apollo an Giulianos Körper hinab. Für einen Sterblichen war der Junge wirklich gut gebaut. Auch wenn seine besten Teile von einem Handtuch verborgen waren. Lorenzo tadelte ihn leise, dass er in diesem Aufzug nicht die Tür öffnen könne, ohne zu fragen, wer dahinter auf ihn wartete. Manchmal war Lorenzo so prüde wie Artemis. Amüsiert über diesen Vergleich verdrehte Apollo die Augen und ging aus dem Weg, damit Lorenzo rasch Giulianos Zimmer betreten konnte. Eine Spur zu laut fiel die Tür hinter Lorenzo ins Schloss. Ungerührt ging Apollo zurück zu der Waschschüssel, wrang den Lappen aus und rieb sich damit über die Arme.
In seinem Rücken verriet das Rascheln von Stoff, dass es sich Lorenzo gerade auf einem der Stühle bequem machte. Das Schweigen hielt an, bis Apollo zufrieden mit seinem Werk den Lappen zurück in die Schüssel gleiten ließ, sich die Nässe von der Haut mit einem Handtuch abrieb und endlich in die frischen Sachen schlüpfte, die bereits auf seinem Bett lagen.
Entspannt lehnte er sich gegen die Tischkante und blickte auf den Sterblichen hinab. Nervös spielte Lorenzo mit dem untersten Knopf seiner Jacke, während er gedankenverloren aus dem Fenster starrte, doch seine Augen nahmen nichts anderes war als die Bilder, die sich in seinem Geist formten.
„Was kann ich für dich tun, Lorenzo?", fragte Apollo und legte den Kopf schief. Sofort schrak der Sterbliche aus seinen Gedanken auf und ließ den Knopf seiner Jacke los, als hätte er sich an ihm verbrannt. Anscheinend war ihm diese nervöse Angewohnheit unangenehm.
So leise, dass Apollo seine Worte kaum verstehen konnte, gestand ihm Lorenzo, dass er den Rat seines Bruders benötige. Apollo verdrehte die Augen, während er heimlich in Lorenzos Gedanken eintauchte. Sie waren voller Bilder von Lucrezia und einem Portrait, das vermutlich Clarice darstellen sollte. Seine Gedanken waren so bunt und schrill vor Angst, dass Apollo das schauspielerische Talent des Sterblichen bewundern musste. Rasch zog er sich aus dessen Geist zurück und musterte Lorenzo, der nach Außen so gelassen und ruhig wirkte. Wenn Apollo nicht in seinen Geist eingetaucht wäre, hätte er nie vermutet, dass in Lorenzo ein solcher Aufruhr herrschte.
„Sie ist sehr freundlich", meinte Apollo und war amüsiert über den hoffnungsvollen Blick, den Lorenzo ihm sofort zuwarf. Bemüht sachlich fuhr er fort: „Clarice ist sehr behütet aufgewachsen und sehr religiös erzogen worden, Lorenzo. Sie ist keine zweite Lucrezia Donati. Ich würde sogar sagen, dass sie das komplette Gegenteil von ihr ist. Aber sie ist Clarice de'Medici und ich weiß, dass sie sich in dieser Stadt einen Namen machen wird. Ich weiß, du erwartest keine Prophezeiung von mir und ich werde dir auch die Möglichkeit nicht nehmen eure Zukunft unvoreingenommen gemeinsam zu gestalten, indem ich dir etwas weissage. Aber so viel kann ich dir sagen, sie ist deine Frau und sie wird diejenige sein, die dir einen Erben schenkt. Doch bis es so weit ist, musst du beweisen, dass du ihr würdig bist. Also geh und mache dir selbst ein Bild von ihr."
Sobald Apollo geendet hatte, murmelte Lorenzo irgendetwas vor sich hin, was Apollo nicht verstand, dann zog sich Lorenzo wieder in die Welt seines Geistes zurück. Dieses Mal widerstand Apollo der Versuchung noch einmal in diese Welt einzutauchen.
Nach einer Weile stieß sich Apollo von der Tischkante ab, ging einmal um seinen Schreibtisch herum und setzte sich auf seinen Stuhl. Als er angekommen war, hatte er seine Tasche unbedacht darauf abgelegt. Jetzt zog er sein Notizbuch hervor, schlug es auf, schnappte sich eine neue Feder und begann seine Gedanken fließen zu lassen. Schon bald war das Kratzen der Feder das einzige Geräusch, welches im Raum zu hören war.
Nur am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, wie Lorenzo sich erhob und auf leisen Sohlen das Zimmer verließ. Doch auf der Türschwelle drehte sich Lorenzo noch einmal zu ihm um und erinnerte ihn: „Morgen findet übrigens das Fest zu Ehren meiner Hochzeit. Sei pünktlich."
Sobald sich die Tür hinter Lorenzo schloss, legte Apollo seine Feder beiseite und schloss die Augen. Mit einem Schlag war er unglaublich müde.

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