Kapitel 13

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Gelangweilt lümmelte Hermes auf einer Wolke und blickte mit blinden Augen auf die Welt der Sterblichen hinab, die er früher so oft besucht hatte. Damals hatte er noch eine wichtige Aufgabe gehabt. Nun rief man ihn nur noch, damit er irgendwelche Einladungen zu irgendwelchen belanglosen Partys austrug. Wenn man ihn überhaupt rief. Die meisten Götter hatten sich nämlich in der Nähe ihrer Freunde niedergelassen, weshalb sie ihre Nachrichten mündlich austauschen konnten. Dies führte dazu, dass Hermes sich immer nutzloser fühlte und nach einem neuen Abenteuer wie in den guten alten Zeiten lechzte. Es würde ihm schon reichen, wenn er einen neuen Skandal ins Rollen bringen könnte. Doch der göttliche Klatsch war auch nicht mehr das, was er einmal gewesen war.
Plötzlich zog etwas Blitzendes seine Aufmerksamkeit auf sich. Irritiert drehte Hermes den Kopf und musterte die Szene genauer. In einer kleinen Gasse einer ihm vollkommen unbekannten Stadt der Sterblichen flackerte etwas. Innerhalb weniger Augenblicke wuchs der schmale Lichtschein zu einer gewaltigen Lichtsäule an. Aufgeregt leckte sich Hermes über die Lippen und beugte sich weiter nach vorn. Das war nicht nur neu und aufregend, sondern verboten. Denn die Ursache dieses Lichts konnte nur göttlicher Natur sein.
Gerade als Hermes nach dem Licht greifen wollte, erlosch es. Frustriert stöhnte er auf und griff nach seinem Caduceus. Zielgerichtet streckte er die Spitze seines Stabes in die Richtung der Gasse und konzentrierte seine Macht auf diesen Punkt.
Sofort zog sich der Dunst der um ihn herumschwebenden Wolken zusammen und zeigte ihm ein klares Bild, welches er beim besten Willen nicht verstehen konnte. In einer engen, dunklen Gasse schmiegte sich eine junge Frau an einen jungen Mann. Beide waren vollkommen in ihren leidenschaftlichen Kuss versunken. Aber was Hermes am meisten wunderte, war die Tatsache, dass ihm dieses Paar vollkommen fremd war. Er kannte sie absolut nicht, obwohl er aufgrund seines Berufs die Gesichter aller Gottheiten auswendig kannte - allein schon, um peinlichen Situationen aus dem Weg zu gehen. Ihre Kleidung schien der neuesten Mode der Sterblichen zu entsprechen, doch auf Hermes wirkte sie einfach nur unvorteilhaft und unbequem.
Auf den ersten Blick wirkten die beiden durch und durch sterblich, weshalb Hermes sich für einen Herzschlag fragte, ob er sich das Licht nur vor lauter Langeweile eingebildet hatte. Aber irgendetwas hatte das Paar an sich, dass er den Blick nicht mehr von ihnen abwenden konnte und je länger er sie so betrachtete, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass sie ihm schmerzlich vertraut vorkamen.
In diesem Moment zog der junge Sterbliche dem Mädchen den Schleier vom Kopf und vergrub seine Hände in ihrem sittsam aufgesteckten Haar. Blinzelnd schloss das Mädchen die Augen und presste sich noch enger an ihn. Im nächsten Moment war die enge Gasse voller Menschen, die zu Hermes' Überraschung das Paar mit Nichtbeachtung strafte. Vielleicht waren solche Szenen öffentlicher Zurschaustellung von gegenseitiger Zuneigung in dieser Zeit gesellschaftlich akzeptabel.
Doch Hermes wunderte sich, wie sich diese kleine Gasse so schnell so füllen könnte, wenn nicht eine besonders starke, magische Barriere den Zutritt verhindert hätte. Aufmerksam musterte Hermes die Umgebung des Paares näher und für seine geübten Augen war es schon fast lächerlich einfach die Reste göttlicher Kraft zu entdecken. Überall um das in sich versunkene Paar hingen Fetzen ihrer Magie, für die Sterblichen um sie herum waren diese Spuren immerhin unsichtbar. Begeistert griff Hermes nach den Fetzen und rief sie mit Hilfe seines Caduceus zu sich.
Einen Herzschlag später landeten zwei Magiefetzen elegant auf seiner Handfläche. Behutsam steckte Hermes seinen Stab zurück an seinen Gürtel, dann musterte er die Magie aufmerksam. Sie hätten in ihrer Form nicht unterschiedlicher sein können. Denn während der eine Magierest zu einer kleinen Kugel sich zusammengezogen hatte und gemächlich über seiner Hand schwebte, schmiegte sich der andere Rest wie ein feiner Streifen Stoff auf seine Haut.
Den ersten Gott zu identifizieren war für ihn kein Problem. Der kleine Funken Magie glühte von Innen so hell, dass Hermes ihn kaum anschauen konnte. Von diesem kleinen Punkt ging eine solche Wärme aus, dass Hermes nur recht widerwillig den kleinen Fetzen mit seinem Finger anstupste. Sofort ertönte eine schmerzhaft vertraute Melodie, die lange verdrängte Erinnerungen in ihm hervorriefen. Natürlich erkannte er das Instrument sofort. Immerhin hatte er es erfunden und seinem Bruder geschenkt, um dessen Zorn zu besänftigen. Sanft und freundlich verklang die Lyra. Apollo. Ohne jeden Zweifel. Niemand sonst war so eng mit diesem speziellen Instrument verbunden wie sein Halbbruder. Wie aufregend.
Hermes schnipste mit dem Finger und Apollos Magiefetzen verglühte. Nachdenklich musterte Hermes den anderen Magierest. Dieser Fetzen war sanfter und einladender als Apollos. Außerdem verströmte er eine solch starke Aura, dass Hermes sich augenblicklich vollkommen wohl und zufrieden fühlte. Träge berührte er den kleinen, seidigen Streifen und sofort umgab ihn ein solch berauschender Zustand, dass Hermes ganz schwindelig wurde. In seinem Mund explodierte ihr süßer Geschmack. Aphrodite. Was zum Hades trieben Aphrodite und Apollo in der Welt der Sterblichen und warum klammerten sie sich aneinander, als würde ihr Leben von diesem Kuss abhängen?
Verwirrt beobachtete Hermes, wie sich Aphrodites Fetzen in Luft auflöste. Fahrig holte er seinen Caduceus hervor und nach ein paar nervösen Augenblicken fand er die Gasse wieder. Von den beiden fehlte jede Spur. Frustriert steckte er seinen Caduceus zurück an seinen Platz.
Fassungslos starrte Hermes auf die Stadt herab und schnipste mit den Fingern, um nach Hause zurückzukehren. In seinem Palast verbrachte er den halben Tag damit, in seiner Bibliothek nach Antworten zu suchen. Doch seine Karten waren hoffnungslos veraltet und so konnte er den genauen Namen dieser Stadt nicht herausfinden. Aber sie befand sich an der Stelle, an welcher der Julius Caesar eine römische Kolonie namens Florentia gegründet hatte. Hermes kam nicht umhin die Ironie der Situation zu erkennen, dass sich Aphrodite ausgerechnet in einer Stadt wohlfühlte, die von einem ihrer Abkömmlinge gegründet worden war.
Obwohl Hermes sich nicht wirklich klüger fühlte, gab er seine Suche auf und versuchte sich auf die Dinge zu konzentrieren, die er sich zusammengereimt hatte. Irgendwo in der Welt der Menschen trieben Aphrodite und Apollo ihre Spielchen mit den Sterblichen. Sie hatten sogar sterbliche Körper in Besitz genommen, um unter den Menschen weniger aufzufallen. Wahrscheinlich richteten sie gerade allerlei Unordnung an. Egal wie er die Fakten drehte und wendete, sie verstießen gegen mindestens vier göttliche Gesetze.
Mit einem Mal durchflutete Aufregung seinen Körper. Seinem Vater würde es ganz gewiss nicht gefallen, dass die beiden seine heiligen Gesetze mit Füßen traten. All die Jahrhunderte hatte sich Hermes nach einem Abenteuer gesehnt und nun hatte er das Glück auf eines geradewegs zuzusteuern.
Grinsend schnappte er sich seinen Mantel und seinen Helm, dann sprang er aus dem Fenster und flog geradewegs zum Palast seines Vaters. Aphrodite und Apollo ließen ihm keine andere Wahl. Hermes war der Bote der Götter und es war seine Pflicht dieses Vergehen zu melden, auch wenn ein Teil von ihm die beiden um ihre illegale Freiheit beneidete.

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