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Die Schwerkraft zog an mir und drückte jegliche Luft aus meiner Lunge. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Mit den Fingern kratzte ich über die Schindeln, um Halt zu finden. Panisch strampelte ich mit meinen Armen und Beinen. Doch es half nichts. Meine Finger glitten über das Porzellan, ohne meinen Fall zu stoppen. Meine Hände schmerzten durch die Schnitte und ich konnte nur mit Mühe einen Aufschrei verhindern. Während meine Hände über die kühlen Schindeln glitten, akzeptierte ich meinen Absturz. Ich konnte nur hoffen, dass ich mir nichts Schlimmeres brechen würde, wenn ich auf dem Boden aufschlug. Um nicht nach unten zu sehen, schloss ich die Augen.

Weit entfernt hörte ich ein leises Fluchen als eine kühle Hand mein linkes Handgelenk umschloss. Überrascht öffnete ich die Augen und sah in das Gesicht des Mädchens mit der Sonnenbrille, in der ich mich selbst sehen konnte. Ihre Haut schien makellos zu sein und ihre Züge weich, obwohl sie mich grade mit nur einer Hand am Absturz hinderte. Ihr Erscheinungsbild stand so sehr im Kontrast zu allem anderen um uns herum, dass ich glaubte sie mir einzubilden.

Stumm griff sie mit ihrer freien Hand nach meinem rechten Arm und zog mich langsam hoch. Es musste ihr ziemlich schwerfallen, denn ich unterstütze sie kein Stück. Mir tat alles weh und der komische Sprint von eben forderte seinen Tribut. Ich hing wie ein nasser Sack Wäsche an der Dächerkante und ließ mich von einer Unbekannten nach oben ziehen.

Als ich mich über die Kante rollte, atmete ich tief aus und starrte in den Himmel. Am liebsten wäre ich einfach hier liegen geblieben und hätte eine Runde geschlafen. Doch schlimm genug, dass ich eben auf Hilfe angewiesen gewesen war, wenn ich die Unbekannte jetzt wieder aus den Augen verlieren würde, wäre ich endgültig armselig. Dazu kam, dass noch immer jemand hinter mir her sein konnte. So raffte ich mich auf und sprang auf die Beine. Ich musste hier weg.

Meine unbekannte Retterin war bereits weitergelaufen, doch schien sie diesmal langsamer zu sein, damit ich mit ihr Schritt halten konnte. Es dauerte nicht lange, bis wir das Ende der Dächer erreichten. Meine Führerin sprang ohne zögern herunter und rollte sich über die Schulter ab. Ich hingegen fiel wie ein neugeborenes Küken von oben herab und schlug hart mit der Schulter auf. Die Schmerzen lähmten so langsam meinen ganzen Körper und es fiel mir schwer wieder auf die Füße zu kommen. Wäre ich nicht so erledigt gewesen, wäre es mir wahrscheinlich peinlich, wie ungelenk ich mich bewegte, doch die Kraft dafür hatte ich nicht.

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte zu dem Mädchen aufzuschließen. Sie schien keine überflüssigen Schritte zu machen und glitt, ohne irgendwo anzustoßen, durch die engen Gassen. Ich stolperte hinterher und versuchte nicht zu sehr auf meine Umgebung zu achten. Doch konnte ich die herumlungernden Menschen mit knochigen Gesichtern und den bestialischen Geruch nur schwer ignorieren. Es kam mir vor als wäre ich wieder in der schlimmsten Ecke des Kala gefangen.

Nachdem wir bestimmt eine halbe Stunde durch die Gegend gerannt waren, blieb die Fremde vor einem steinernen Tor, welches mit Holzplatten versperrt worden war, stehen. Die Witterung hatte an den Steinen und dem Holz ihren Tribut gefordert. An vielen Stellen war das Mauerwerk brüchig und über dem Holz hatte sich eine Schicht Moos gebildet.

Ohne mich eines Blickes zu würdigen, hob das Mädchen die untersten zwei Holzbalken an und nickte in meine Richtung. Auch wenn jegliche Vernunft in mir dagegensprach, kniete ich mich hin und schob mich unter der Absperrung hindurch. Jeder meiner Muskel protestierte bei der kleinsten Bewegung.

Es dauerte einige Sekunden bis sich meine Augen an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich befand mich am Absatz einer breiten Steintreppe, dessen Ende ich nicht erahnen konnte. Ohne die Strahlen der Sonne wurde mir schnell kalt. Noch bevor ich mich aufgerichtet hatte, bildete sich Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen. Schlagartig wurde mir bewusst, wie unpassend meine Kleidung war. Durch das ganze Gerenne und Gekletterte waren der Rock und die Bluse zerrissen und am Rock konnte ich auch einige Blutflecken erkennen. Ich wollte mich einfach nur noch waschen und schlafen. Selbst Essen hätte ich jetzt für eine halbwegs saubere Hose getauscht. Röcke waren einfach nicht meins.

Hinter mir tauchten ein paar Füße auf. Die Fremde schwang sich elegant unter den Holzbalken hindurch und stand direkt wieder auf den Füßen. Wird die denn niemals müde?

Schweigend ging sie an mir vorbei die Treppe herab. Diesmal schien sie sich Zeit zulassen. Es wirkte beinahe so als würde sie spazieren. Ab und zu drang ein künstlicher Lichtstrahl zu uns durch als wir schweigend die endlose Treppe herabstiegen. Jedoch konnte ich nicht sagen, woher das Licht kam.

Die Zeit, die wir brauchten, bis wir den Fuß der Treppe erreichten, zog sich wie ein altes Kaugummi. Mir tat alles weh und mit jedem Schritt wurde ich müder. Vor meinem inneren Auge sah ich mein altes Bett im Kala. Ich sehnte mich nach meiner harten Matratze. Der Wunsch wuchs in die Unendlichkeit als ich erkannte, dass nach der Treppe ein riesiger Raum folgte. Er war überseht mit alten und brüchigen Säulen und rechts und links wurde er durch rostige Metallschienen eingerahmt. Wo zum Teufel waren wir nur? Verschleppt mich diese Verrückte etwa?

Ich rammte meine Hacken in den harten Fliesenboden und blieb wie angewurzelt stehen. Jetzt, wo ich mir sicher sein konnte, dass uns niemand mehr folgte, wollte ich ihr nicht mehr folgen. Zwar hatte sie mir mehrmals geholfen, doch wusste ich nichts über sie. Wieso sollte ich einer Fremden folgen? „Klär mich auf", forderte ich ein. Sie blieb ein paar Meter von mir entfernt ebenfalls stehen und schüttelte leicht den Kopf. Ihre lilafarbenen Locken wippten leicht als sie zielstrebig auf eine alte Säule zusteuerte und sich mit dem Rücken anlehnte. Durch das spärliche Licht, dass hier unten herrschte, konnte ich nur schwach ihre Umrisse erkennen. Ich erkannte, wie sich ihre Lippen bewegten, jedoch konnte ich sie nicht verstehen.

Frustriert biss ich auf meine Unterlippe und ließ mich auf den Boden fallen. Wenn sie nicht bereit war mit mir zu reden, werde ich einfach hierbleiben. Ich bin ja nicht verrückt. Mit den Armen hinter meinem Kopf verschränkt lag ich auf dem Rücken und wartete, dass sie auf mich zukam. „Du bist ja ziemlich stur." Ihre Stimme überraschte mich. Trotz ihres kühlen und beurteilenden Blickes von vorhin lag in ihrer Stimme überraschend viel Wärme. Sie hüllte mich ein und zog meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Es kostete mich einiges an Überzeugung nicht nachzugeben und auf sie zuzukommen. „Ich folge dir schon die ganze Zeit, ohne zu wissen, was hier eigentlich los ist und wo ich eigentlich bin. Du hingegen scheinst ziemlich genau zu wissen, was zu tun ist, also lass mich an deiner Weisheit teilhaben", platze es aus mir heraus.

Ein süßes Lachen erfüllte den Raum und hallte von den langen Gängen, in denen die Schienen verliefen, wider. „Du bist hier im Sano." Sie machte eine kurze Pause und ihre Worte hallten in meinem Kopf. Sano... Davon hatten sie uns nichts erzählt, jedoch eins stand fest. Ich war in keinem Abschnitt. Meine Fragen, die wie wild in meinem Kopf tobten, blieben mir im Hals stecken. Wenn ich jetzt reden würde, würde die Fremde wahrscheinlich aufhören mir etwas zu erzählen. Ich musste jetzt still sein und einfach nur zuhören.

Mein Gegenüber atmete laut und langsam aus, bevor sie weitersprach. „Willkommen in der Welt der Ausgestoßenen", sagte sie trocken. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich erschauderte. „Das Sano ist der Bereich zwischen den Abschnitten. Du bist also weder im Vermell, noch im Mora. Jeder der hier lebt, wird von der Gesellschaft wegen Irgendetwas verachtet. Wie dir vielleicht aufgefallen ist, ist es genauso dreckig und heruntergekommen, wie im Kala. Doch das hier ist schlimmer." Mir wurde schlecht. Schlimmer als im Kala? Geht das überhaupt? „Hier kommt keiner, der dir Lebensmittel oder irgendwelche Unterstützung bringt. Du lebst hier in deinem eigenen Dreck und wirst hier ausgesetzt, um zu verhungern." Ruckartig setze ich mich auf und starrte sie an.

Die Unbekannte hatte sich ebenfalls auf den Boden gesetzt und ließ den Kopf hängen. Ihre Locken verdeckten ihr Gesicht. Mir war zwar bereits aufgefallen, wie dreckig die Gassen und Dächer waren, doch hätte ich niemals gedacht, dass das überall so sein könnte. Diese wenigen Sätze von ihr waren wie ein Schlag in mein Gesicht. Ich war also in keinen Abschnitt gekommen. Dazu kam, dass ich jetzt wohl eine Aussätzige war. Aber warum?

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