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Die Stille, die sich zwischen uns ausbreitete, bevor die Unbekannte weitersprach, war regelrecht erdrückend. „Ist ziemlich beschissen, aber wir können es nun mal nicht ändern. Wir wurden als Abschaum der Gesellschaft abgestempelt und damit müssen wir leben." Mit diesen Worten stand sie auf und kam mit wenigen Schritten auf mich zu. Kurz vor mir kniete sie sich hin und sah mir tief in die Augen. Ihre verspiegelte Sonnenbrille hatte sie sich in die lila Mähne geschoben. Durch das spärliche Licht lag über ihren grünen Augen ein dunkler Schatten. Sie musterte mich aufmerksam und ihre vollen dunkelroten Lippen hatte sie zu einem freundlichen Lächeln verzogen. Jetzt hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit die Fremde zu mustern.

Durch ihre weichen Gesichtszüge und die kurzen lila Locken wirkte sie wie eine zerbrechliche Puppe. Ihre Haut war schneeweiß und schien von der dreckigen und gefährlichen Umwelt vollkommen verschont zu sein. Ihr Kleidungsstil jedoch wirkte hart dagegen.

Sie trug eine lange blickdichte schwarze Leggins, die an ihren Beinen wie eine zweite Haut saß. An den Waden und Oberschenkeln war ein kleiner Streifen durch weiße Spitze ersetzt worden. Auch ihr schwarzes Top lag hauteng an und betonte jede ihrer niedlichen Rundungen. In jeder anderen Situation würde sie als außergewöhnlich hübsch gelten, doch durch die düstere Atmosphäre wirkte sie eher verrucht. Ihre Augen musterten mich kühl. Irgendetwas an ihr lud mich ein ihr zu vertrauen. Es machte mich misstrauisch, denn ich kannte sie im Grunde gar nicht und doch wollte ich ihr mein gesamtes Leben zu Füßen legen. Vermutlich lag es an dem leichten Mandelduft, der von ihr ausging oder aber an ihrem warmen und freundlichen Lächeln.

Ich schluckte schwer und lehnte mich ein Stück zurück, um Platz zwischen uns zu schaffen. Du kennst diese Frau nicht. Vergiss das nicht. Immer wieder rief ich mir dieses Mantra in die Gedanken, um wenigstens ein Stück weit bei klarer Vernunft zu bleiben. Um sie zum Weiterreden zu bringen, sah ich sie auffordernd an. Als sie weitersprach stand sie auf und ging in Richtung des Tunnels. „Hier ist es echt ungemütlich. Komm. Ich zeige dir, wo wir eigentlich sind und dann kann ich mir auch deine Fragen anhören, die dir so sehr auf der Seele brennen, dass sie mich beinahe anspringen. Also komm." Wir?! Wer verdammt ist wir? Ich stand zwar auf, doch machte ich keinen Schritt vorwärts. „Ohne einen Namen folge ich dir nicht. Du könntest ja sonst wer sein", platze es aus mir heraus. Die Fremde war bereits einige Meter von mir entfernt als sie stehen blieb. „Maeve. Aber nenn mich ruhig Mae. Ist kürzer und machen eh alle", sagte sie, ohne mich anzusehen. Ihre Antwort reichte mir und ich schloss mich schnellen Schritten zu ihr auf. Maeve. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es ihr wahrer Name war oder, ob sie sich diesen, ähnlich wie ich, selbst gegeben hatte.

Schweigend gingen wir den düsteren Tunnel entlang. Ich musste aufpassen nicht auf den Schienen auszurutschen. Die Luft war kalt und feucht, doch ich weigerte mich meine Arme um mich zu schlingen. Ich musste nicht noch schwächer wirken als eh schon. „Liria ich...", begann Mae ihren Satz. Mein Herz rutschte in meine Hose und mir entfleuchte ein Was. Sie kennt meinen Namen? Meinen richtigen Namen! Was ist hier los? Grade hatte ich mich an ihre Gegenwart und die Situation gewöhnt, da riss mich meine Retterin wieder aus der Haltung. „Fuck...", fluchte sie leise. „Ich kenne deinen Namen aus dem gleichen Grund, wie ich dich bei deiner Ankunft auch direkt gefunden habe. Es ist mein Job", sagte sie kühl als würde das alles erklären. Die Widerworte blieben mir im Hals stecken. So langsam machte sie mich aggressiv. Glaubt sie tatsächlich, dass es mit so einer lächerlichen Erklärung getan wäre? Sie reißt grade meine gesamte Weltvorstellung mit nur wenigen Sätzen aus ihren Fugen und das soll ich einfach so akzeptieren? Ihre halbstarken Aussagen, mit denen sie für nur mehr Fragen sorgte, nervten mich so langsam.

„Dahinten kannst du unser Haus schon sehen", erklärte Maeve. Haus? Was? Sie macht mich echt wahnsinnig. Sie hatte recht. Einige Meter von uns entfernt konnte ich an einer Abbiegung schwache Lichter erkennen. Wir würden keine fünf Minuten bis dahin brauchen.

Die Fragen tobten nur so in meinem Kopf. Ich wollte so sehr wissen, was hier gespielt wurde und warum ich hier war, doch war mir bewusst, dass Mae mir nicht eine meiner Fragen beantworten würde. Doch brannten sie mir auf der Zunge. Ich musste mir genau überlegen, wie ich meine erste Frage formulierte, um auch eine adäquate Antwort zu bekommen.

„Mae sag mal..." Weiter kam ich nicht. Ein lautes Geräusch durchschnitt die Luft und hallte laut von den Wänden des Tunnels wider. Bisher hatte ich dieses Geräusch nur einmal in meinem Leben gehört. Ein Schuss! Ich zuckte zusammen und Panik stieg in mir auf. Als ich das letzte Mal Schüsse gehört hatte, waren so viele meiner Freunde gestorben. Am liebsten hätte ich mich am Boden zusammengekauert, um keine Kugel oder Querschläger abzubekommen, doch bevor ich mich klein machen konnte, griff meine Retterin nach meinem rechten Handgelenk. Sie zog mich mit sich während sie auf das spärlich belichtete Haus zu rannte.

Als wir näher kamen, konnte ich die alte und bereits an einigen Stellen verfallende Fassade des Hauses deutlich erkennen. Sie war bereits an vielen Ecken mit den unterschiedlichsten Materialen geflickt worden. Doch so brüchig das Äußere auch wirkte, entging mir nicht, dass sowohl die Fenster als auch die Tür durch Metall verstärkt wurden und keine Lücke im Haus zu erkennen waren. Der einzige Weg hinein war also die Haustür.

Bei jedem Schuss zuckte ich zusammen. Es waren nur noch wenige Schritte, bis wir beim Haus und so aus dem Schussfeld heraus waren, als eine großgewachsene Gestalt Maeve und mir entgegenkam. Es war ein junger Mann, kaum älter als ich, mit knall orangenen Haaren, die wild von seinem Kopf abstanden. Er trug eine schwarze Jeans und ein weißes Shirt, dass an seinen Oberarmen spannte. Im Gegensatz zu Mae und mir rannte er nicht. Zwar bewegte er sich mit schnellen Schritten, doch schien er dabei vollkommen entspannt zu sein. Als er an uns vorbei stiefelte, fiel mir auf, dass er beinahe einen ganzen Kopf größer war als ich. Erstaunt starrte ich ihm hinterher, während Maeve mich in das Haus zerrte. Der Unbekannte ging zielstrebig auf die Quelle der Schüsse zu. Ist der wahrsinnig? Ich konnte nichts erkennen, dass ihn vor einer Kugel hätte schützen können. Zunächst wollte ich stehen bleiben und ihn warnen, vielleicht sogar zur Hilfe kommen. Doch Mae machte mir mit einem kräftigen Ruck deutlich, dass Stehenbleiben keine Option war.

Kaum fiel die Tür hinter uns zu, schienen die Schüsse unendlich weit von uns entfernt zu sein. Mae ließ mich los. Mit einem Seufzer ließ ich mich an der Tür herunter auf den Boden gleiten. Meine Stirn ruhte auf meinen Knien als ich für einen Moment versuchte zu verstehen, was eben passiert war.

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