Im größten, erhabensten und nahezu olympischen Casino Edens namens Atlantis blickt Dean sich an dem runden, ausladenden Pokertisch um. Zwischen all den Menschen um ihn füllen der vibrierende Bass und die lauten Beats die Atmosphäre vollkommen aus. Dicht gedrängt tanzen die Menschen ekstatisch auf der Tanzfläche neben der Bar, unweit des Pokertischs. Der Geruch von Alkohol und Zigaretten- sowie Marihuana-Rauch erfüllen die Luft, während Dean einer derjenigen, eher ruhigeren Menschen hier ist, die um Unsummen von Geld spielen.
Gerade, als er denkt, er könnte sich wieder voll aufs Spiel konzentrieren, ertönen weitere dumpfe Schläge. Dem Gegröle nach zu urteilen sind sie vollkommen breit und blau. Nichts Ungewöhnliches, dennoch zuckt Dean kurz zusammen, als er hört, wie eine Faust erst einen Nasenknochen und gleich darauf einen Kiefer zu brechen scheint.
Kopfschüttelnd versucht er, seine Umgebung auszublenden. Obwohl er das schon tausende Male gemacht hat, zittern seine Hände mit den Karten unaufhörlich und der Schweiß tropft stetig von seiner Stirn. Denn dieses Mal spielt er nicht gegen irgendjemanden, sondern gegen die Bosse von Edens größten kriminellen Banden. Um sich von seiner Nervosität abzulenken, versucht Dean einen Witz nach dem anderen Witz zu reißen, aber unglücklicherweise lacht niemand. Noch nicht einmal aus Höflichkeit. Doch was kann er auch von Kriminellen, Dealern, möglicherweise Menschenhändlern erwarten?
Und zu allem Überfluss versammelt sich nun auch noch eine Gruppe von Leuten um den Pokertisch herum, um das Spiel zu beobachten. Zwischen all den schwarz gekleideten Business-Männern um den Tisch herum muss Deans ziemlich unpassend aussehen in seiner hawaiianischen Badehose, dem nerdigen T-Shirt und seiner Cappie, die verkehrtherum auf seinem kurzen, gekräuselten schwarzen Haar sitzt.
Bevor das Spiel angefangen hatte, haben sie ihm seine Brille mitsamt der Smartwatch abgenommen. So, wie sie es üblicherweise mit den Accessoires tun, um ein faires Spiel ohne Betrug sicherstellen zu können. In der Tat hilft Deans Brille ihm nicht nur, scharf zu sehen. Sie zeigt ihm auch Massen an Informationen über alles, was sich direkt vor seinem Gesicht befindet. Ob es die Namen von Personen sind, ihre Besitztümer, mögliche Waffen oder kriminelle Vorgeschichten. Bei dem Gedanken an seine Brille muss sich Dean ein leichtes Lächeln verkneifen, denn er hat sie selbst programmiert und freut sich immer wieder buchstäblich zu sehen, wie gut sie funktioniert.
Plötzlich dringt eine tiefe, kehlige Stimme zu ihm durch. Es ist einer der breit gebauten Männer mit den schwarzen Augen, der ihn fragt, ob er noch anwesend ist. Er ist wieder an der Reihe.
Zum hundertsten Mal blickt Dean auf seine Karten, die definitiv nicht die besten sind. Mittlerweile ist sich Dean fast sicher, dass er dieses Spiel verlieren wird. Doch da ist etwas, das sie ihm niemals wegnehmen können. Eine Kraft, die er irgendwann in seinen Teenager-Jahren entdeckt hat, als er wieder einmal so frustriert über eine Person auf der Straße war, die überall diese verlogenen, falschen Produkte verkaufte. Die, die überall auf den viel zu grellen Neon-Bildschirmen angepriesen wurden. Danach hat er den Mann dort nie wiedergesehen.
Die Schläger hinter ihm fahren noch immer mit ihren Faustschlägen vor, obwohl sich Dean sicher ist, dass mittlerweile keiner von ihnen noch viele Knochen übrighaben kann, die nicht gebrochen sind. Gut für ihn, denn sie ziehen die Aufmerksamkeit der meisten Leute auf sich und es ist besser, wenn ihn weniger Menschen beobachten, wenn Dean seine Kräfte nutzt.
Einige Male haben das Ausbleiben des Zwinkerns und dieser Blick seiner dunkelbraunen Augen es fast verraten... Nachdem er ein weiteres Mal tief durchgeatmet hat, blickt er direkt in die Augen seiner Gegner. Einen nach dem anderen zwingt er damit diejenigen, die bessere Karten als er haben, aus dem Spiel auszusteigen. Währenddessen zwingt er diejenigen, die schlechtere Karten haben, zu bleiben. Man könnte nun annehmen, dass Dean zu unvorsichtig mit der Kraft der Gedankenkontrolle umgeht. Der Kraft, durch die Augen anderer Menschen zu sehen, sie dazu zu bringen, Aktionen auszuführen. Und so ist es auch.
Normalerweise bekommen seine „Opfer" nichts mit, manchmal sind sie ein wenig verwirrt, was man leicht auf den Alkohol oder die Drogen schieben kann. Vor allem hier in der Atmosphäre von Atlantis.
Nun wieder überzeugt und selbstbewusst lässt Dean die zwei Worte „All in" durch den gesamten, rauchgeschwängerten, nach Alkohol, Schweiß, überteuertem Parfum und Blut riechenden Raum sinken, sich ausbreiten. Sie haben den gewünschten Effekt: selbst die Schläger halten kurz inne, die gesamte Aufmerksamkeit verlagert sich wieder auf den Pokertisch, auf Dean mit seinem geheimnisvollen Lächeln. Mit einer ausladenden Geste schiebt er alle Chips in die Mitte des Tisches, während der Kronleuchter über ihm seine dunklen, noch immer verschwitzten Arme aufblitzen lässt.
Nur ein blaugesichtiger, korpulenter Alien, der es aus irgendwelchen Gründen noch immer schafft, regelmäßig in Atlantis aufzukreuzen, ist bereit, mitzuziehen. Und so kommt nun endlich der Moment. Der Dealer, der Spielleiter, fordert die beiden auf, ihre Karten preiszugeben – und somit auch den Gewinner des Spiels.
Mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den vollen Lippen dreht Dean seine Karten, legt sie vor sich auf den Tisch, während der Alien entsetzt die grotesk dünnen, langen Hände vors Gesicht schlägt. Dean schiebt alle in der Mitte liegenden Chips zu sich, während die Menschenmasse im Casino grölt. Doch nur für einen kurzen Augenblick, dann geht das Leben im Casino weiter wie zuvor. Auch das bekannte Geräusch der Fäuste beginnt wieder, so, als wäre gar nichts passiert.
Zufrieden verlässt Dean den Tisch und er spürt deutlich, wie einige Menschen ihn ungläubig anstarren. Dean lässt sich davon nicht weiter beeindrucken – er hat es geschafft, er hat es tatsächlich geschafft! Der Android an den vergoldeten Glastüren zählt vorsichtig und ganz genau jeden Chip einzeln und transferiert anschließend das Geld aus einem Automaten, steckt die zusammengebundenen Scheine in einen schwarzen Aktenkoffer. Endlich bekommt Dean seine Uhr wieder, wobei der Chip darin als Kreditkarte fungiert und gleichzeitig all seine eigenen Informationen aufbewahrt inklusive krimineller Vorgeschichte, Daten, Größe, Gewicht und Alter...
Und tatsächlich klettert seine Bargeldnummer auf dem Bildschirm seiner Smartwatch bereits wenige Sekunden später um einiges höher.
Mit einem tiefen Aufatmen nimmt Dean die antiken Bluetooth-Kopfhörer, die er von seinem letzten Sieg im Casino gekauft hat, und steckt sie in seine Ohren, schaltet die Welt aus. Die Hand fest um den Aktenkoffer geschlossen, verlässt er das grelle, laute Casino und schreitet in die Stille der düsteren, leeren Nacht draußen.
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BEFORE THE SKY TURNED BLACK
Short StoryEden, 3021: Dean, Allie, Daya, Ryan und Tacco sind an die menschenunwürdige, ausbeuterische und schlichtweg verlogene Gesellschaft Edens gewöhnt. Noch wissen sie nichts von der starken Verbindung, die sie zusammenführen wird. Dean hält sich mit Hack...