TACCO

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Die tiefrote Sonne ist bereits kurz davor, vollends vom Himmel zu verschwinden, als Tacco mit geschickten Fingern die zerbeulte, zerkratzte Stahltür des kleinen, braunen Ladens abschließt. Leise ächzend lässt er den Schlüssel mitsamt einem Dutzend Schlüsselanhängern in der Brusttasche seines grün karierten Flanellhemdes versinken. Sobald sich der kleine, abgekaute Teddybär neben mehreren, verblassten Tierschutzlogos und den bunten Armbändern an Taccos Herz drückt, atmet er leise auf. Immerhin ist diese kleine Geste die beste Möglichkeit, ihr so nah wie möglich zu sein.

Bevor er sich auf den Heimweg macht, krempelt er die weichen Ärmel seines Hemdes hoch, sodass seine tätowierten Arme zum Vorschein kommen. Die feinen, geschwungenen, wellenförmigen Linien auf der rechten und die Blumenmuster auf der linken Seite – sie gehören zu seinen Lieblingsmotiven auf seinem Körper – schimmern bläulich in der Abendsonne, die bald endlich dem Mond weichen wird. Mit einem letzten Blick auf die schmale, glänzende Stahltür des Ladens – seines Ladens – umfasst Tacco die breiten, roten Reifen seines gelben Rollstuhls und mit einem gekonnten Schwung wendet er sich um 180 Grad. Normalerweise freut er sich immer schon auf seine kleine Hütte nahe der Waldsiedlung zwischen den Slums und den Business-Vierteln Edens. Doch nicht heute. Denn dieser Tag markiert bereits den 5. Jahrestag, seitdem Fiona nicht mehr da ist.

Der sonst so fröhliche Junge mit dem Hauch von kleinen Lachfältchen an Mund- und Augenwinkeln fährt sich gedankenverloren durch die rosafarbenen Haare. Dann streicht er sie behutsam hinter die Ohren und kramt in der Stricktasche, die an der Lehne des Rollstuhls hängt, nach der pastellrosafarbenen Sonnenbrille mit den blau getönten Gläsern. Er hat durch sie zumindest das Gefühl, sich gegen die offenkundig verstrahlte Atmosphäre Edens zu schützen – durch die Sonne, die blinkenden Neonschilder- und röhren und die ganzen Emissionen, die ungefiltert in die Luft strömen.

Entschlossen, seine Betrübtheit hinter sich zu lassen, lässt er seinen kleinen Laden, welcher handgemachte Schmuckstücke wie Armbänder, Ketten, Ohrringe, Fußbänder verkauft und gleichzeitig ein beginnendes Tattoostudio ist, hinter sich. Der schwarze Asphalt erscheint Tacco heute noch schwärzer, noch unebener, denn er spürt jeden noch so kleinen Kieselstein unter dem Profil seiner breiten Rollstuhlreifen. Entnervt legt er an Geschwindigkeit zu, seine Unterarmmuskeln zeichnen sich jedes Mal deutlich von seinen tätowierten Armen ab, als er immer schneller über den breiten Asphalt rollt. Seine Umgebung verschwimmt zu einem Farbgewirr aus Grau, Braun, roten, blauen, grünen und hellen Tönen in den Schaufensterläden in der Straße, bevor Edens Businessviertel und die hässlichen, gleißend weißen Neonleuchtreklamen beginnen.

Tacco kann im Nachhinein nicht sagen, ob es der veränderte Geruch nach Zitronengras und abgestandenem Kaffee auf der linken Seite ist, welcher aus einer offenen Tür strömt, die lauten Rufe von kleinen Kindern, die in einem der winzigen Hintergärten Fangen spielen oder ob es doch die schwarze Gestalt ist, welche sich deutlich zwischen zwei der monströsen verspiegelten Glasgebäude des Business-Viertels abzeichnet. Jedenfalls befindet sich Tacco genau auf Höhe von Tinas kleinem Antiquitäten- und Porzellanladen, als ein sonnengelbes, einnehmendes – und, Tacco kann es nicht anders beschreiben – beruhigendes, heilend wirkendes Licht von der kleinen, schwarzen Gestalt ausgehend, für einen Moment ganz Eden erstrahlen lässt.

Einige Zeit lang ist Tacco gefangen in diesem seltsam warmen, beruhigenden Licht. Sind es Sekunden, Minuten oder doch eine Stunde, die er hier sitzt? Unfähig, sich in dem dehnbaren Stoff seiner Rückenlehne zu bewegen, seine Arme von der dünnen, gelben Jogginghose mit den psychedelisch anmutenden, pink- grün- und babyblaufarbenen Mustern an beiden Oberschenkeln, zu lösen. Irgendwann erlischt das Licht, die rote Sonne wird mittlerweile vom weißen Mond abgelöst. Und plötzlich fährt Taccos Rollstuhl ganz von allein weiter.

Geradeaus, bis sich die schwarzen Asphaltwege verengen, er ein wenig klaustrophobisch die Wände der verspiegelten Glasgebäude emporblickt, während er die abgehackten, engen Straßen des Business-Viertels entlangfährt. Wie von selbst folgt er der mysteriösen schwarzen Gestalt und einem kleinen Wesen, welches neben ihr fliegt. Doch die beiden sind viel schneller als Tacco, in den engen Straßen kann er seinen Rollstuhl nicht so schnell wie sonst steuern. Irgendwann lichten sich die monströsen, majestätischen Gebäude. Und geben den Blick auf eine weitläufige Lichtung frei. Der Mond dringt nun endlich bis zum erdigen Boden vor, sodass Tacco seine roten Augen selbst unter der Sonnenbrille zusammenkneift. Dieses Licht ist völlig anders, als das einnehmende, warme Licht, welches er eben auf Höhe von Tinas Laden erlebt hat. Sein mexikanischer Teint wird hell erleuchtet, als er den Kopf weiter anhebt und am Ende der Lichtung erkennt, welchen Gestalten er gefolgt ist.

Ein zierliches, schwarzhaariges Mädchen steht mit dem Rücken zu ihm am Rande des Waldes. Tacco setzt seine Sonnenbrille ab und mustert das Mädchen in der schwarzen Jacke mit seiner rot-geblümten Hose mit verschnörkelten, feinen dunklen Mustern und ein Paar roter Boots. Dieses Mädchen sieht nicht aus wie die üblichen, schlicht und hell gekleideten Mädchen, die er so oft in den Business-Vierteln gesehen hat. Irgendwie passt sie aber auch nicht in das Bild der armen, kleinen Viertel rund um Tinas und seinem Laden. Auf der Schulter des mysteriösen, dunkelhaarigen Mädchens hockt eine kleine, flauschige Gestalt. Das Wesen, welches zuvor neben ihr hergeflogen ist. Bevor Tacco es sich anders überlegen kann, umklammert er das raue Profil seiner Reifen und rollt in Richtung der beiden, als er plötzlich eine kehlige Stimme aus dem Wald vernimmt.

BEFORE THE SKY TURNED BLACKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt