HADES

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In Allies grün funkelnden Augen spiegeln sich unzählige sonnengelbe Lichter, kristallklare, glitzernde Bäche und alle möglichen auf Hochglanz polierten Hightech-Geräte, die bestimmt sogar Donny in seinen Business-Büros zum Staunen gebracht hätten.

Da sie die erste ist, die hinter die mit Pflanzen überwucherten, mysteriöse Felswand getreten ist, zögert sie einen Moment. Unsicher, ob sie die enge steinerne Treppe hinabsteigen soll, die sich in Form einer riesigen Wendeltreppe durch die majestätische Halle, die sich vor ihren Augen eröffnet, erstreckt, klammert sie ihre zitternden Hände fest um den eisernen Handlauf des Treppengeländers.

Die schwindelerregende Höhe des Absatzes der Steintreppe direkt hinter der riesigen Felswand ist nicht das einzige, was Allie fast umkippen lässt. Scharf zieht sie die Luft ein, als nur wenige Zentimeter neben ihr ein kreischender schwarzer Greifvogel vorbeistürzt und ein riskantes Flugmanöver hinlegt, bevor er auf einem der hochgewachsenen dunklen Bäume in der Halle auf einer der unzähligen Inseln - oder sollte sie besser Oasen sagen? - landet.

Und endlich gelingt es dem Mädchen, ansatzweise die Eindrücke zu überblicken, die in dem Moment auf sie einprasseln.

Zunächst verwandelt sich das Geländer der Treppe, die quer durch den kuppelförmigen Saal der Gaia - sie kann gar nicht fassen, dass sie sich hier gerade tatsächlich in der größten Untergrundorganisation Edens befindet - in eine Art Wasserfall, der von kleinen, akkurat zugeschnittenen Büschen und leuchtenden Blumen besetzt ist. Der eiserne Handlauf geht nach dem Treppenabsatz in eine Art botanischen Garten - so, wie Allie in Tinas Büchern Bilder von den uralten Gärten gesehen hat - über, doch man kann sich noch immer neben den Pflanzen festhalten. Die praktisch gestalteten Metallstäbe der Treppe gehen, je weiter Allie ihren Blick schweifen lässt, in kristallene, geschwungene Stäbe über, die hin- und herschwingen und damit die perfekte Illusion eines Wasserfalls erzeugen. Eines Wasserfalls, der direkt aus dem tiefsten, exotischen Wald sprießt.

Als Allie eine Mischung aus einem ungläubigen Raunen und ein etwas ungehaltenes Räuspern - vermutlich von diesem Dean - hört, schüttelt sie den Kopf, als könnte sie dadurch besser begreifen, was sich hier gerade abspielt. Dann atmet sie tief durch, klammert die Hände noch fester um den Handlauf, sodass ihre Knöchel weiß unter ihrer zarten Haut hervortreten. Plötzlich wird sie auch wieder gewahr, dass Manon weiterhin treu auf ihrer Schulter hockt und - sie kann es nicht anders beschreiben - ein aufmunternd gurrendes Geräusch ausstößt, das das schwarzhaarige Mädchen schließlich etwas unsicher einen vor den anderen Fuß auf der steinernen Treppe setzen lässt. 

Während sie mit jedem Schritt an Sicherheit gewinnt, sich ein geradezu seltsam beruhigendes Gefühl sich in ihr breit macht, scheint Allie mit jedem weiteren Schritt etwas Neues zu erkennen. Die kleinen, violetten, feuerroten, orangegelben und azurblauen Blüten, die das Geländer säumen, werden von unzähligen kleinen, leuchtenden fliegenden Insekten belagert, die eifrig hin- und herfliegen. Neben den schwarzen Greifvögeln, die in dem Saal weit verbreitet sind, gibt es noch weitere, bunt schillernde fliegende Vögel. Allie  hält kurz verblüfft inne, als sie sieht, dass sie Feuer speien, sobald sie ihren Schnabel öffnen, was sich zu einem beeindruckenden Lichtspiel entwickelt.

Doch das Mädchen ist viel zu überwältigt von der Flora und Fauna, um wirklich zu verarbeiten, was sie gerade sieht. Während sie immer weiter ins Herz des Saales fortschreitet und dabei auch immer weiter Richtung Boden vordringt, erkennt sie die vereinzelten Inseln mit Eichen, Buchen, Palmen und sogar einige Nadelbäume sind zu sehen. Erde, Sand und ein Pflanzenmeer erstrecken sich unter den Bäumen. Gesäumt werden die kleinen Inseln von Bächen und Flüssen, doch nun erkennt Allie auch die großen, bunten Fische im Wasser. Und noch mehr: Eichhörnchen in allen Rot- und Brauntönen, Biber auf angefressenen Baumstämmen und sogar scheue Füchse zwischen den Nadelbäumen und gurrende Eulen und Fledermäuse sind zu sehen. Aus der Ferne erkennt Allie, dass auch Pferde, Esel und andere größere Tiere auf anderen Inseln grasen. Und in dem Moment versteht sie auch, was es mit dieser paradiesischen Naturszenerie auf sich hat:

Hastig werkende, quer durch den Saal laufende, weiß gekleidete Menschen mit Schutzbrillen und vollbepackter Ausrüstung zeichnen sich nun deutlich von der scheinbar unberührten Natur ab. Und da wird Allie bewusst, dass das Wissenschaftler sein müssen, die es möglich gemacht haben, hier unten, weit unter der Sonne, der Natur oberhalb der Erdoberfläche, dieses Leben zu ermöglichen. Es ist auch nicht so, als hätte das Mädchen noch nie von den Gerüchten gehört, was die Gaia in ihrem Untergrund alles vollbracht hätten, wie autark sie tatsächlich sind; vollkommen unabhängig von dem Leben dort oben... doch all das sehen, riechen, hören und an den wunderschönen Pflanzen rechts und links von ihr sogar spüren zu können, das ist noch einmal etwas völlig Anderes.

Allie bemerkt erst, dass sie fast am Fuß der Treppe angelangt ist, als einige Stimmen von unten ertönen. Einige der Wissenschaftler werfen sich vielsagende Blicke zu. Und dann sieht Allie auch die bereits von ganz oben majestätisch anmutenden Gerätschaften, die im gesamten Saal zwischen den Inseln und Bächen verteilt stehen. Manche sind quadratisch, silbergräulich, setzen sich deutlich von ihrer Umgebung ab und andere fügen sich fast vollständig in das Bild der Natur. Sogar ihre Form gleicht die eines Baumes oder eines smaragdgrünen Busches. Und noch mehr Menschen, ohne Uniform, stattdessen in bunten Kleidern oder einfach nur schwarzen T-Shirts und Hosen, laufen hektisch durch die Kuppel.

Fast wäre Allie gegen einen von ihnen gelaufen, da sie den Blick noch immer zur Seite gerichtet hält, als sie bereits das Ende der Treppe erreicht hat. Im letzten Moment weicht sie einem braunhaarigen, jungen Mann mit runder Brille aus, dem sie ein leises "Sorry" zu murmelt und ihn mit einem entschuldigenden Blick bedenkt.

Hier unten fühlt sie sich wie eine Ameise in einem riesigen Blumenbeet und sie spürt einen kühlen Luftzug, der bestimmt von einem der zahlreichen Hightech-Geräte hier ausgestoßen wird. Mit einem kurzen Blick hinter sich stellt sie fest, dass die anderen auch am Ende der Treppe angelangt sind und ihre Überwältigung und Verwirrung spiegelt sich in Allies eigenen Augen wider.

Dean erreicht als letztes den Betonboden direkt vor der Treppe und macht eine theatralisch ausladende Geste, die er mit einem frechen, kecken Grinsen unterstreicht.

Und in dem Augenblick fällt Allie auf, dass diese gesamte Kuppel wahrscheinlich nur eine von vielen ist, da ihre gläsern verspiegelten Wände offenbaren, dass hinter ihnen ebenfalls Lichter blinken, Silhouetten von Geräten und Bäumen sich abzeichnen und das warme Licht, welches auch in dieser Kuppel vorherrscht, scheint auch in den danebenliegenden Sälen und Räumen zu leuchten.

Am Rande bekommt Allie mit, dass Dean anfängt, über die verschiedenen Aufgabenbereiche zu sprechen, mit denen alle möglichen Personen betraut werden, was er auch sichtlich stolz mit einigen Armbewegungen unterstreicht und seine dunkelbraunen Augen leuchten regelrecht dabei auf. Als Allie in Deans glänzende Augen blickt, stellt sie fest, dass ein Teil ihres Glanzes von dem sanften gelben Licht herrührt, dessen Ursprung sie noch immer nicht ausgemacht hat. Langsam lässt sie ihren Kopf in den Nacken sinken und da sieht sie Dutzende von den uralten, sogenannten Glühbirnen, die zwar schon fast grotesk hier unten aussehen, doch ist ihr Licht um ein Vielfaches angenehmer anzusehen als das der grellen, weißen LED-Leuchten in ganz Eden.

Endlich schließt Dean mit seinem schnellen Vortrag über die Gaia, bewegt sich an die Spitze ihrer Truppe, winkt die anderen hinter sich her, murmelt etwas von "Den Ältesten vorstellen" und ruft dann fast feierlich:

"Willkommen im Hades, Leute!"


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 01, 2021 ⏰

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BEFORE THE SKY TURNED BLACKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt