DAYA II

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Nein! Stop!

Das zitternde Mädchen ist sich nicht sicher, ob sie das gerade laut gesagt oder nur gedacht hat. Und noch weniger weiß sie, wann sie ihre Arme gerade zur Seite gestreckt hat, die Fäuste nun geöffnet und die Handinnenflächen jeweils auf die Stäbe zeigend. Die auf einmal wieder weiter weg schweben. Und im nächsten Augenblick plumpsen sie leblos auf den dunklen Boden auf, sodass Daya sich in einer riesigen Staubwolke befindet.

Wie, verdammt noch mal, ist das möglich? Spielen Dayas Sinne ihr immer noch einen Streich?

Auch, wenn die Alternative nicht beruhigender ist, weiß Daya, dass das gerade tatsächlich passiert ist. Ihre Bambusstäbe haben sich auf magische Weise aus ihren Händen wegbewegt und sich dann um sie herumgedreht. Und dann hat Daya sie zum Stoppen gebracht.

Ihre schnelle, kurze Atmung und der noch immer aufwirbelnde Staub schnüren ihr die Luft ab, hustend und keuchend taumelt Daya rückwärts, stolpert. Mit den Augen versucht sie durch die Staubwolke die Stäbe zu fixieren und merkt dabei gar nicht, wie sie plötzlich auf dem Boden landet. Erschrocken reißt Daya ihren Kopf herum und im nächsten Moment finden sich die Stöcke unmittelbar über ihrem Kopf wieder. Sie spürt regelrecht, wie der glatte Bambus über die spitzen, gegelten rosafarbenen Strähnen ihrer Haare fährt. Aber sie hat doch nur...

Erneut fokussiert sich Daya auf die Vorstellung, sich zu verteidigen, ihre Arme zu verlängern – dafür sind die Stäbe schließlich da – und richtet ihre Augen fest auf die vom Mond leuchtenden Blätter eines Busches, welcher sich nur unweit von dem Mädchen befindet. Fast gleichzeitig sausen die beiden Stäbe auf den Busch zu, umkreisen ihn wie auch eben Daya. Doch diesmal lässt sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen stellt sie sich noch fester, noch bildhafter vor, wie ihr Feind inmitten des Busches hockt und ihre Bambusstäbe sich den Weg durch die verkümmerten, dünnen Äste und die hell beschienenen, nahezu reflektierenden ovalen Blätter bohren, um den imaginären Feind einzukesseln. Die Stäbe wirbeln herum, setzen präzise, fast vorsichtig von gegenüberliegenden Seiten an und jagen dann einen exakt ausgeführten Schnitt durch den Busch. Die schwarzen Augen von Daya haben kein einzigen Mal dabei zusammengezuckt, stattdessen reißt sie sie immer weiter auf – voller Ehrfurcht. Daya sieht förmlich, wie die imaginäre Gestalt zwischen den Stäben nur wenige Zentimeter, eher Millimeter Bewegungsfreiheit übrig hat.

Daya hat soeben allein mit der Kraft ihrer Gedanken ihre Bambusstäbe gesteuert.

Einige Minuten lang starrt Daya nur reglos auf den Busch, weiß nicht einmal, ob sie atmet oder vielleicht die ganze Zeit über die Luft anhält. Irgendwann beginnt ihre rechte Hand zu kribbeln – sie hat gar nicht gemerkt, dass sie einen Großteil ihres Gewichtes auf ihr Handgelenk gestützt hat. Langsam verlagert Daya ihre Position, begibt sich in die Hocke und richtet sich dann in Zeitlupe auf. Mit der anderen Hand umfasst sie ihr rechtes Handgelenk, massiert es geistesabwesend. Den Blick hält sie allerdings weiterhin auf den nunmehr kahlen Busch gerichtet, der umringt ist von abgerissenen Blättern und abgebrochenen, dünnen Ästen. Die Stäbe befinden sich noch immer inmitten dessen, was von dem einstmals stattlichen Busch noch übrig ist. Und mit einem Mal beginnt Daya zu realisieren, was sie soeben gemacht hat. Eine prickelnde Aufregung beginnt sich in ihrem Magen breit zu machen und elektrisiert dann ihren ganzen Körper, einschließlich ihrem Kopf.

Wild entschlossen, es gleich noch einmal zu versuchen, richtet Daya etwas zittrig ihre Arme in Richtung der Stäbe und versucht, sich vorzustellen, wie die Stäbe nach oben schießen und sich noch einmal so wie eben drehen. Nichts geschieht.

Komm schon, das hast du dir doch nicht alles eingebildet. Halb verzweifelt, halb wütend schreitet Daya mit ihren langen, trainierten Beinen in großen Schritten auf den Busch zu. Doch auch nach dem fünften Versuch bewegen sich die Stäbe nicht.

Das gibt es nicht. Das kann einfach nicht wirklich passiert sein. Träumt Daya vielleicht doch eigentlich in den Samtlaken ihres majestätischen Himmelbettes?

Gerade, als sie sich selbst davon überzeugen möchte, dass ihr der überaus stressige Arbeitstag wahrscheinlich einfach wirre, unschöne Träume beschert, ertönt ein lautes Rascheln aus einem noch größeren Busch zwischen zwei hochgewachsenen, schmalen Baumstämmen mit zwei prächtigen Baumkronen und augenblicklich sind Dayas Sinne wieder geschärft. All die Zweifel und Ängste, die sie soeben noch wie ein kalter Wirbelsturm bewegungsunfähig und angreifbar gemacht haben, sind beiseitegeschoben. Einzig und allein die drohende Gefahr aus dem Unterholz zählt in diesem Augenblick.

Ohne weiter nachzudenken, nimmt Daya wieder ihre Kampfstellung ein, nimmt jeden Lufthauch, jede über den Boden tippelnde Maus und jedes Rascheln in der entferntesten Baumkrone wahr, lokalisiert alles und schließt die Augen. Dabei nähert sie sich geräuschlos dem immer lauter werdenden Rascheln in dem großen Busch, der nun nicht mehr als wenige Schritte von ihr entfernt ist. Mit einem tiefen Atemzug beschwört Daya ihre verlängerten Arme zu sich und fokussiert weiterhin den undurchsichtigen Busch. In der Geschwindigkeit eines fliegenden Pfeils schießen rechts und links neben Daya die Stäbe mit der japanischen Inschrift von ihrem Großvater auf den Busch zu. Wie vor einigen wenigen Minuten setzt Daya an, das, was sich dort verbirgt, mit den Stäben einzuschließen. In der Erwartung, ein größeres, wildes Tier dort vorzufinden. Gerade, als die Stäbe bereits über dem Busch zu wirbeln beginnen, schrillt eine ohrenbetäubende Alarmglocke in ihrem Kopf und die Stäbe bleiben buchstäblich stocksteif in der Luft stehen.

Keine fünf Sekunden später erblickt Daya zwei Paar Schuhe unter dem Busch. Und in diesem Augenblick werden Daya vier Dinge klar: sie beherrscht tatsächlich die alte Kunst der Telekinese, von der Großvater ihr so oft erzählt hat. Wie sie in alten Kulturen angeblich praktiziert wurde. Zweitens: diese Kraft funktioniert offensichtlich wie ein sechster Sinn, sonst hätte Daya nicht gewusst, dass sich hier Menschen verbergen und sie hier nicht ihre neu entdeckten Kräfte einsetzen sollte. Drittens, Daya hat nicht den Hauch einer Ahnung, was das Ganze ausgelöst hat und wieso sie es mal kontrollieren kann und mal nicht. Und viertens, und das scheint trotz all der verwirrenden Erkenntnisse in dem Augenblick am wichtigsten zu sein: hier befinden sich noch weitere Personen fernab von Edens Businessvierteln, die wer weiß was hier treiben.

Gerade, als Daya zu dem Schluss gekommen ist, lieber schnell Kehrt zu machen, den Gurt ihrer Lacktasche zurechtzurücken und ihre Bambusstäbe zu greifen und sich in Ruhe im geschützten, schwach vom Mond beschienenen Garten ihres Penthouses mit den zurechtgestutzten Büschen und Blumenbeeten Gedanken über die vergangenen Minuten zu machen, treten zwei schwarze Gestalten zwischen den hohen, bedrohlich wirkenden Bäumen hervor.

BEFORE THE SKY TURNED BLACKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt