DAYA

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Mit einem verächtlichen Schnaufen und ein paar im Geiste gefluchten Beleidigungen stürmt Daya aus ihrem Büro – ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie klemmt sich ihre schwarze Lacktasche unter den athletischen, gebräunten Arm und stampft in einer nicht ganz so ladyliken Manier auf den verglasten Aufzug zu, der sich mithilfe der eingebauten Face-ID augenblicklich öffnet. Eine herrische Handbewegung des asiatischen, großen, sportlichen Mädchens mit den kurzen, nach oben gestylten schwarzen Haaren mit den rosafarbenen Spitzen und die Türen schließen sich – auch, wenn durch das Glas jedem, der hinsieht, ihre geröteten Wangen nicht verborgen bleiben. In ihrer üblichen Fassung schließt sie die fast schwarzen Augen, fährt mit ihren Fingerspitzen über ihre hohen Wangenknochen und zwingt sich mehrmals ein- und auszuatmen.

Doch es gelingt ihr nicht, sich wirklich zu beruhigen. Wutentbrannt wirft sie dem mit LED-Lichtern versetzten Aluminiumboden – für den Transport in Lichtgeschwindigkeit, wie es sich für ein dreihunderstöckiges Gebäude gehört – einen vernichtenden Blick zu. Dabei fällt ihr Blick auf die royalblauen Highheels, welche passend zu ihrer hautengen Jeans abgestimmt wurden. Die drei fein gezackten Ecken der Schuhe, die Dayas Ferse umspielen, erinnern das Mädchen auch heute wieder anbrechende Wellen. Wellen. Wasser. Beruhigung. Ganz ruhig...

Doch es will ihr nicht gelingen. Diesmal war es einfach zu viel. Mitchell hätte es nicht so weit treiben sollen. Und jetzt will Daya nichts Anderes, als aus diesem noblen Glasgebäude mit den Kunstbäumen und LED-Strahlern gesäumten Gängen zu verschwinden. Das einzig Schöne an ihrem Job ist die Aussicht. An keinem anderen Ort kann man Eden so gut überblicken wie aus Dayas Büro. Die rote Sonne kann das Mädchen dort in ihrer ganzen, noch verbliebenen Pracht bestaunen. Sie sieht im Tagesverlauf, wie alles in das rötliche Licht getaucht wird. Im Wind schaukelnde Bäume, die weit hinter dem Business-Viertel liegen. Die verspiegelten Gebäude, die das schwache Licht hin- und herwerfen. Abends wird es ironischerweise dann wirklich hell. Der weiße Mond und die Neonleuchten, die sogar noch heller leuchten, als die LED-Strahler des Gebäudes, bringen Eden wirklich zum Leuchten. Und die allgemeine Dunkelheit verbirgt all die hässlichen Dinge, die sich nachts hier ereignen.

Ein kaum spürbarer Ruck gibt Daya zu verstehen, dass sie unten angekommen ist. Geräuschlos öffnen sich die Glastüren und obwohl sie sehr wohl spürt, dass mehrere Augenpaare sie anstarren, stößt Daya erneut ein verächtliches Schnauben aus, stürmt an den Leuten vorbei und endlich gibt dieses verlogene Gebäude das Mädchen frei. Endlich kann sie wieder atmen.

Die abendliche, kühle Luft umgibt Daya und sie schlägt diesmal nicht die gewöhnliche Route zu ihrem Penthouse ein, welches nur wenige Blöcke von ihrem Arbeitsplatz entfernt ist. Owen wird sich nicht wundern, wenn Daya erst noch ein wenig durch die Viertel zieht, denn eigentlich hätte sie ohnehin noch eine halbe Stunde arbeiten müssen. Der Gedanke bringt ihren Entschluss für den Bruchteil einer Sekunde ins Wanken. Sie riskiert unglaublich viel. Aber es hätte ohnehin nicht mehr lange gedauert, bis es aus ihr herausgebrochen wäre. Viel zu viele Jahre, ja, bereits ihr ganzen Leben lang hat sie sich in diese Scheinwelt eingefügt, sich den überbezahlten Job erkämpft und ist sehr schnell aufgestiegen. Doch Mitchell und diese verdammten Hunde...

Daya schüttelt sich, strafft ihre Schultern und richtet den Gurt der schwarzen Lacktasche auf ihrer Schulter. Auf ihrer pastellblauen Bluse sieht der vom Mond angestrahlte schwarze Gurt fast schon bedrohlich aus. Seufzend fährt sie sich durch die dunklen, gegelten Haare und diesmal ist es ihr egal, ob sie damit ihre perfekte Frisur zerstört. Immer schneller läuft sie durch die asphaltierten, schwarzen Straßen zwischen den Glasgebäuden, in die Richtung der pflanzenbewachsenen Lichtung, die sie jeden Tag so fasziniert beobachtet. Dabei öffnet sie das hintere, versteckte Fach ihrer Tasche und zieht in einem gekonnten Zug die beiden zusammengesteckten Bambusstangen heraus. Sie ist sich sicher, dass sie ohnehin nicht beobachtet wird. Doch selbst wenn. Was würde es jetzt noch ändern? 

Nur eines kann sie jetzt wirklich beruhigen. Daya läuft immer weiter. Sie weiß genau, in welche Richtung sie laufen muss, um die Baumlandschaft zu erreichen. Sobald das sportliche Mädchen die letzten Gebäude hinter sich gelassen hat, atmet sie tief durch. Bisher hat sie die Bäume immer nur beobachtet. Doch jetzt hier auf der mondbeschienenen Lichtung zu stehen und sie von unten in all ihrer majestätischen Pracht zu sehen, raubt ihr fast den Atem. Generell liebt sie zwar die Natur, doch ihr Leben hat es ihr nicht erlaubt, sich ihren eigentlichen Leidenschaften hinzugeben. Zum Glück hatte sie jedoch als Kleinkind ein paar unschuldige, schöne Jahre dank ihres Opas. Er hat ihr auch die beiden Stöcke mit der rot eingravierten japanischen Inschrift vererbt. Bei dem Gedanken an diesen gutherzigen, kleinen und doch auch im hohen Alter noch äußerst trainierten Mann seufzt Daya leise auf.

Es ist nicht so, als hätte sie bis zu diesem Tage nicht oft genug nachts in dem von hohen Büschen umgebenen Garten ihres Penthouses trainiert, wenn Owen schon längst geschlafen hat. Als hätte sie nicht die Kampfkunst des Juijitsu durch die Schriften ihres Opas und alles, was er ihr damals beigebracht hat, perfektioniert. Denn wenn Daya eins ist, dann ist es ehrgeizig und äußerst perfektionistisch. Doch hier, fernab von ihrem geschützten Penthouse, der Scheinwelt ihres Arbeitsplatzes, fühlt sie sich seltsam unbeschwert. Ja, unbeschwert...

Plötzlich spürt Daya das leichte Gewicht der glatten Stöcke nicht mehr in ihrer Hand. Verwundert sieht sie auf ihre Hand hinab. Und tatsächlich. Sie ist leer.

Was geht hier vor sich?

Sie kann sich nicht daran erinnern, die Stöcke fallen gelassen zu haben, so unglaublich der sich ihr bietende Anblick der sich im leichten Nachtwind wiegenden Bäume und Büsche – der unberührten Natur – auch ist. Und dann sieht sie es. In einer Entfernung von vielleicht zehn Metern vor ihr schweben die beiden Bambusstöcke etwa drei Meter senkrecht über dem Boden.

Zunächst will das Mädchen nicht glauben, was sie da sieht. Das muss ein übler Trick sein. Doch hier ist niemand. Niemand außer ihr. Vielleicht hat Mitchell ihr ja irgendein Halluzinogen in ihren schwarzen Kaffee getropft. Doch Daya ist ja gleich nach dem wortreichen, lautstarken Streit aus dem Gebäude gestürmt. Doch was ist es dann?

Es muss eine Erklärung dafür geben. Das selbstbewusste Mädchen strafft die Schultern, nimmt automatisch die Grundstellung des Kampfes ein: beide Arme vor der Brust angewinkelt, die Hände zu Fäusten geballt. Das linke Beine leicht vor das rechte gesetzt, bereit, sich zu verteidigen. Konzentriert atmet Daya mehrmals durch und fixiert mit ihren im Mondlicht tatsächlich schwarz schimmernden Augen die beiden Bambusstöcke. Langsam bewegt sie sich auf sie zu. Nur noch fünf Meter, vier, drei...

Gerade, als Daya ihren muskulösen Arm ausstrecken und nach einem der beiden Stöcke greifen möchte, wirbeln die Stäbe um sie herum.

Entsetzt stößt Daya einen schrillen Schrei aus, schlägt sich jedoch sofort die Hände vor den Mund. Die Lichtung trägt ihren Schrei bis zum Rande der dunklen, bedrohlich hin- und her wankenden Bäume.

Okay, das ist ein schlechter Traum. Wenn du deine Augen kurz schließt und dann wieder öffnest, liegst du in deinem weichen Himmelbett und links neben dir steht ein noch lauwarmer Tee mit deinem Lieblingsgebäck, dass Owen vor etwa einer Stunde erst dort abgestellt hat. So wie jeden Abend.

Daya schließt und öffnet die Augen. Doch sie befindet sich nicht in ihrem Bett. In ihre Nase dringt nicht der beruhigende Duft von grünem Tee und Wagashi-Gebäck nach dem Rezept ihrer Großeltern. Stattdessen wirbeln die beiden Stäbe in immer enger werdenden Kreisen um Daya, schneiden brutal die Luft durch und werden sie gleich zerreißen.

BEFORE THE SKY TURNED BLACKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt