ALLIE

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Obwohl die Sonne bereits hinter den verspiegelten monströsen Glasgebäuden der Stadt versunken war, wurde Allie von etwas geblendet, sobald sie den nach alten Teppichen und Zitronen riechenden Eingang des kleinen Ladens hinter sich gelassen hatte.
Verwundert hebt sie die Hand und schirmt ihre Augen damit ab, um etwas erkennen zu können. Die Sonne sieht man in dieser Stadt eigentlich nie in ihrer vollen Pracht, weswegen ohnehin von überall her eine beißende Neonröhre, ein überdimensionales Neonschild oder auch nur ein buntes Lichtspiel aus Neonfarbe zu sehen ist, welches das neueste Haarprodukt, die neuesten Schuhe, die dir Flügel verleihen oder die neueste Teleportationstechnik anprangert.

Doch nicht hier. Plötzlich überkommt das zierlich anmutende Mädchen mit den schwarzen, langen Locken, ein eiskalter Schauer. Es ist, als würden zwei eisige Hände unter ihr T-Shirt kriechen und sich dann langsam an ihrem schmalen Rücken heraufhangeln.

„Verdammt, was ist hier los?", murmelt Allie und dreht sich einmal um sich selbst. Ihre grüngelben Augen mustern dabei jeden Zentimeter, jeden Millimeter ihrer Umgebung, die sie im Schlaf kennt. Doch es ist nichts anders als sonst. Unfern des kleinen, unauffälligen Kräuterladens, der der kleinen, stämmigen Tina mit dem freundlichen, braunen, runzligen Gesicht gehört, befinden sich noch einige weitere kleine Läden. Sie verkaufen Antiquitäten, Pflanzen, Heilkräuter, Porzellan. Der Bereich der Stadt bildet einen Übergang zwischen diesen, wie Allie stets meint „gemütlichen Vierteln, durch die man gerne mal schlendert" und den mächtigen, weit in den Himmel ragenden, die Wolken zerreißenden Glasgebäuden der „besser Gestellten". Die schwarzen Straßen schlängeln sich als verkümmerte Würmer mühsam durch die verspiegelten Gebäude, während sie an dem Punkt, an dem Allie steht, sich noch an die umstehenden Läden, die vereinzelten Palmen und den Farn anpassen. Na ja, das ist zumindest Allies Empfindung. Sehr viele teilen sie sicherlich nicht, denn der Großteil der Stadt ist ja tatsächlich so verblendet. Wie passend, dass die Werbung genau das buchstäblich erreicht: die Masse zu verblenden.

Seufzend überprüft Allie, ob die drei kleinen Fläschchen, die sie Tina abgekauft hat, sicher in ihrer kleinen, gehäkelten Umhängetasche stehen. Dann schließt sie die Augen und lauscht dem Wind, der mit einem Mal aufkommt und sie in genau die Richtung treibt, aus der soeben das unergründliche Blenden gekommen ist. Irgendwie weiß Allie, dass es diesmal keine Leuchtreklame ist, nicht die orangerote Sonne, die sowieso nur noch bewirkt, dass der Himmel in ein unheimliches Blutrot getaucht wird, nur, um dann nachts einem noch bedrohlicheren Schwarz zu weichen. Trotzdem liebt Allie die Nacht und ihre Friedlichkeit.

Die schwarze Lederjacke – aus unechtem Leder, versteht sich – zieht das Mädchen enger um ihre Schultern und folgt dann der Stimme des Windes. Der schwarze Asphalt scheint mit jedem Schritt dunkler zu werden und das Rot des Himmels taucht die mächtigen Gebäudekomplexe vor Allie in ein Farbspiel aus grünblau reflektierendem Licht und Sonnenuntergangsrot – wie die Sonnenuntergänge in einem der alten Bücher von Tina aussehen – bis hin zu diesem tiefen blutrot. Doch Allie verspürt dieses unbehagliche Gefühl nicht wegen der einschüchternden Atmosphäre der Stadt, der Gebäude, der merkwürdig geschlängelten Straßen, die in dem Viertel der Stadt nie einsehbar sind. Man weiß nie, was hinter der nächsten Ecke lauert – wie hinter dem silbernen Müllcontainer, an dem Allie verbeiläuft, als sie zwischen zwei Spiegelgebäuden ankommt. Die schöne Natur hat sie nun endgültig hinter sich gelassen. Und das unbehagliche Gefühl lässt noch immer nicht nach.

Und da schießt es aus den Tiefen des Containers nach oben und Allie kann sich gerade noch mit einem gewagten Sprung nach vorne retten.

BEFORE THE SKY TURNED BLACKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt