Überschreitungen

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Nach diesem mehr als niederschmetternden und verunsichernden Gespräch hatte Violet zu nichts anderem mehr Lust, als wieder ihre Familie zu sehen. Anne würde mit Sicherheit schon schlafen und die Anfahrt wäre für heute zu weit, aber zu ihrer Mutter konnte sie jederzeit gehen.

Also setzte sie sich hinter das Steuer ihres kleinen Autos und fuhr durch die für London erstaunlich ruhigen Straßen zu dem Krankenhaus, nahe ihrer Wohnung und der London Bridge.

Sie zeigte am Eingang ihren Ausweis vor, nicht das das sonderlich wichtig war - jede Krankenschwester, die je an der Rezeption Dienst hatte, kannte diese große Frau mit violetten Spitzen, die seit 6 Jahren mindestens einmal die Woche vorbeischaute -, so trug Victoria auch nur den Namen ein und wies sie mit einem mitfühlendem Gesichtsausdruck in die übliche Richtung.

Mit einem belegten 'Danke' folgte Violet widerstrebend ihren Füßen, die sie automatisch in den dritten Stock brachten. Zu den Langzeitpatienten, bei dem Zimmer wo der Name Harker, A. unter vier anderen groß auf der Tür prangte öffnete sie die Tür.

Wie immer hatte sich schon beim Betreten des Krankenhauses eine übermenschliche Schwere auf sie gelegt. Als würde Gott oder wer-auch-immer ihr vorwerfen wollen, das alles sei nur ihre Schuld. Aber das mussten sie ihr nicht einmal sagen, dass wusste sie selbst.

Hätte Violet an dem Tag nicht Nachsitzen bekommen, wären Mutter, Anne und sie auf die Kirmes gegangen. Stattdessen war ihr Vater früher von der Arbeit gekommen, um auf seine Tochter zu warten und ihr einen Vortrag über Verantwortung und Recht zu halten. Aber soweit war es nicht gekommen.Diese beschissene Gang skrupelloser Mörder und Vergewaltiger hatte leider andere Pläne gehabt.

Die waren absolut high gewesen, als sie in das Haus eingebrochen waren. Die sind nicht verantwortbar, hatte der Polizist gesagt, als er nach den Verhören mit den sechs halbstarken, teils noch minderjährigen Verbrechern heraus in den Warteraum gekommen war. Die meisten bekamen nur knapp 2 Jahre Gefängnis, da es nicht nachzuweisen war, ob sie tatsächlich ein Verbrechen begangen hatte, allein der Mörder mit noch Blut an seinen Händen hatte 15 Jahre bekommen und der Bastard - noch ein Junge, fast des selben Alters wie sie zu der Zeit -, der noch in ihrer Mutter drinnen war als Walter in das Haus kam, trotz allem aber mit 5 Jahre Jugendknast, Bewährung und Sozialarbeit davonkam, erhielten mehr.

Violet schüttelte heftig den Kopf. Es war nicht notwendig, sich wieder all diese Dinge in den Kopf zu rufen. Was passiert war, ließ sich nicht mehr verändern und ihre Familie brauchte sie jetzt mit einem kühlen Kopf, zuversichtlich und unterstützend.

Sie trat in den Raum und ging vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen (eine der Patientinnen war immer mal wieder auf äußere Reize anzusprechen, nur dass Mrs Davidson dann immer sofort anfing zu schreien). Am Bett dem nächsten zum Fenster blieb sie stehen.

Die Frau, die da vor ihr lag, sah nicht mehr wirklich aus wie ihre Mutter. Angelina Harker hatte rabenschwarze, glänzende Haare gehabt und war immer freundlich und aufmunternd gewesen, diese Frau hier tat seit Jahren nichts anderes als dazuliegen und fiel immer mehr in sich zusammen. Das einst so perfekte Haar war spröde geworden und an den meisten Stellen weiß und grau.

Langsam setzte sie sich an ihre Seite und nahm ihre abgemagerte Hand in die ihren, führte sie zum Mund und küsste sanft den Handrücken, bevor sie heiser flüsterte: "Ich bin wieder da, Mom. Wie geht es mir denn heute?"

Diesen Satz hatten sie früher immer zur Begrüßung gesagt. Früher hatte sie voller Enthusiasmus in ihren guten Tagen gerufen und an den schlechten nur gemurmelt: Wie geht es mir denn so? Ursprung davon war, dass die kleine Anne mit sieben Jahren immer noch ein paar Wörter vertauschte und so eines Tages in Vios Zimmer kam, um zu fragen Wie geht es mir denn? Mutter hatte sich vor Lachen nicht mehr eingekriegt und später waren auch ihre Töchter eingefallen.

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