Für den Bruchteil einer Sekunde

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Die Hände  ineinander verschränkt, die Ellenbogen schwer auf den Tisch gestützt saß er vor ihr. Sein Blick ruhte prüfend auf ihrem Gesicht; die Miene unbewegt. Sie erwiderte sein Starren nicht sondern sah stur auf die Tischplatte vor sich. Nicht, dass da besonders viel zu sehen war, aber sie glaubte, die Abscheu in seinen Augen nicht ertragen zu können. Sie sahen sie alle so an, als wäre sie etwas besonders Seltsames und auch Ekliges, wie eine Spinne. Sie verstanden eben nicht, warum sie war, wie sie war.

Jenny suchte verkrampft nach Worten. Ihr Psychiater starrte sie weiterhin einfach an und sein Blick brannte sich beinahe in ihre Kopfhaut. Sie musste etwas sagen, egal was. Warum war nur dieses Gefühl da, diese Verlorenheit? Warum konnte sie nicht einfach da sein, ohne dass man sie direkt verurteilte?

„Wissen Sie, was seltsam ist?", fragte Jenny, die Stimme belegt. Sie wusste selbst nicht, woher die Worte plötzlich kamen, aber sie sprach sie mit Trotz aus. Was kümmerte es sie, wie andere sie betrachteten? Man konnte es den Menschen niemals recht machen, sie dachten was sie wollten und sie verabscheuten, was sie nicht kannten.

Ihr Psychiater verstärkte die Intensität seines Blickes.

„Sag es mir, Jenny."

„Es ist komisch, wenn sie dir Fragen stellen."

„Was für Fragen?"

„Wenn sie dich am Montag fragen: Wie war dein Wochenende."

„Warum ist das komisch?"

„Sie fragen es. Mit ihren lieben Blicken. Mit ihrem Lächeln. Alles geheuchelt. Und dann will man antworten, ehrlich natürlich. Und für den Bruchteil einer Sekunde zieht alles vor den Augen vorbei, wie in einem Film."

Verwirrt und interessiert musterte der Arzt sie.

„Du meinst, so wie man sagt, dass einem das ganze Leben vor Augen gehalten wird, wenn man stirbt?"

Sie überlegte einen Moment.

„Ja und nein", antwortete sie schließlich. „Es zieht nicht dein Leben vorbei. Nur das Wochenende. Du siehst wieder das Messer vor deinen Augen..."

„Messer?", fragte er barsch. Sie lächelte.

„Ja, das Messer. Es war ein Künstlermesser. Scharf wie eine Rasierklinge."

„Was ist ein Künstlermesser?"

„Es ist, um Papier zu schneiden. Aber ich bin mir sicher, es taugt genauso gut, um auch in Adern zu ritzen..."

„Jenny, du..."

Sie unterbrach ihn.

„Lassen Sie mich zu Ende reden!"

Er schwieg. Wieder dieser Ausdruck im Gesicht. Verachtung. Hilflose Wut stieg in ihr auf. Was sollte sie tun? Was konnte sie dafür? Glaubte er, sie fühlte mit Absicht so? Zorn mischte sich in ihre Stimme, vermengte sich mit dem Trotz zu einer triefenden Masse.

„Du siehst wieder das Messer" wiederholte sie. „Es ist so schön scharf. Du siehst, wie du es aufsetzt, wie es in die Haut drückt, sodass alles darum weiß wird. Du fühlst den Druck, den Wunsch, rotes Blut auf weißer Haut zu sehen, dagegen der Wunsch zu leben, die Angst vorm Tod."

„Jenny..."

„Seien Sie ruhig!" sie stand bei den Worten auf. Der Stuhl rutschte mit einem lauten Schnarren zurück. „Ich bin es leid, immer den Mund halten zu müssen! Jetzt hören Sie mir zu!" Und er schwieg tatsächlich.

„Ein Ruck, das Messer fliegt in die Ecke, weil du weißt, wenn du länger zögerst, schlägst du es dir tief ins Fleisch. Du siehst den Regen, als du geflohen warst, aus deinem Zimmer, deinen vier Wänden, deinem Gefängnis. Raus, raus, raus. Du spürst den Schmerz, dieses Ziehen in der Brust, das Gefühl, zerbrechen zu müssen. Du spürst wieder die Wellen, wie sie über dir zuschlagen, das eiskalte Wasser, das dich bis auf die Haut durchnässt. Der Schock beim Absprung, als dir klar wird, dass du nicht sagen kannst, ob du in den eiskalten See gesprungen bist um etwas zu fühlen, irgendetwas, und sei es nur die durchdringende Kälte, oder ob du es in der Hoffnung getan hast, nicht mehr aufzutauchen. Das Gewicht der Jacke, die kurze Hoffnung, dass sie zu schwer ist. Das Strampeln der Beine, dein Körper, der in dir plötzlich einen Feind erkennt und um sein Leben kämpft."

Sie atmete inzwischen schwer, ihre Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst, den sie trug, und flogen ihr wirr um den Kopf.

„Der Blick in den Spiegel, Hass in den eigenen Augen, Verachtung für dich selbst. Die Enttäuschung im Blick des Vaters, du bist die Schande der Familie, dumm, verklemmt, labil. Und dann die Frage: Wie war dein Wochenende? Für den Bruchteil einer Sekunde zögerst du. Sie schauen dich an, Zweifel im Blick, sie wissen, etwas stimmt nicht mit dir, sie ahnen es, es ist Karma. Dann antwortest du: Ja, es war ein schönes Wochenende. Ich habe es sehr genossen."

Er starrte sie an, den Mund weit geöffnet, geschockt.

„Sie wollen es nicht hören. Man darf es nicht sagen. Sonst sperren sie dich weg. Du bist krank, sagen sie. Sie hassen, was sie nicht verstehen. Sie verachten, was nicht der Norm entspricht. Sie ignorieren, was ihren Verstand übersteigt. Sie wollen dein Leid nicht sehen, sie wollen nicht damit konfrontiert werden, sie sehen weg, blind, und lassen dich allein. So allein..."

Bei den Worten sackte sie zurück auf ihren Stuhl. Zerbrochen, einsam, geschädigt.

Er blieb einen Moment wie versteinert sitzen. Dann kritzelte er etwas auf sein Klemmbrett.

„Jenny, ich schlage vor, du bleibst eine Weile hier. Ich glaube, du bist sehr krank, und ich möchte dir helfen..."

Sie sank tiefer ein, eine einzelne Träne im Gesicht, die Haare struppig um ihr Gesicht.

„Ja...", hauchte sie leise.

Du bist krank, sagen sie. Sie hassen, was sie nicht verstehen.

Silence says a lot more than you thinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt