Schmetterlingsflügel

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Der Schnitt tat nicht mal so weh. Während Ran eine präzise, leuchtend rote Linie auf ihr Handgelenk zauberte, war es kein Schmerz sondern nur Erleichterung. Sie wiederholte die gleichmäßige Bewegung auf der anderen Seite, doch ein plötzliches Gefühl der Schwäche durchzuckte ihren Arm und die Klinge des Messers rutschte ab; tief stieß es in ihr Fleisch und sie keuchte einmal auf. Ihr Herz flatterte wie einSchmetterlingsflügel und ihre Gedanken vernebelten sich.

Vielleicht war es ganz gut, dass sie abgerutscht war. Der plötzliche Schmerz klärte ihre Gedanken ein wenig und gaben ihr ein ungemein lebendiges Gefühl. Sollte man nicht genau so sterben? Mit einem klaren Kopf und mit demLeben in der Brust, das Herz noch einmal rasen spüren? Doch zu ihrer Enttäuschung raste es nicht. Unregelmäßig pulsierte es, flatterte, kam ins stolpern. Wie viel ihr Herz schon für sie getan hatte. Es schlug jeden Tag, ohne Pause, ohne einen Fehler, nur für sie, nur um sie am Leben zu erhalten. Selbst jetzt kämpfte es tapfer weiter.

Ran spürte, wie das Leben langsam aus ihr heraus sickerte. Wie ein Splitter glitt es aus ihrem Fleisch und bildete eine warme, feuchte Pfütze zu ihren Füßen. Sie schwankte, doch sie weigert sich, auf den Boden zu fallen. Sie wollte stehend sterben, nicht auf den Knien. Wenigstens einmal inihrem Leben wollte sie das sein, was sie war. Ohne lügen, ohne sich zu verbiegen, ohne Angst vor einem Urteil zu haben.

Was sie wohl erwartete?Ewige Schwärze oder ein Licht am Ende des Tunnels? Vielleicht auch nichts von alle dem. Vielleicht erwartete sie auch die Hölle. Würde ihr recht geschehen.

Die Pfütze wurde immer größer.

Wann man ihren Tod wohl bemerken würde? Vermutlich würde es sowieso Tage dauern. War ja nicht so, als ob irgendwer sie vermissen würde. Man würde sie beerdigen. Und sie dann vergessen. Einfach so. Man würde sagen, wie schwach und dumm sie war, dass sie eine Sünde begangen hatte. Schwach, weil sie nicht einmal ihr eigenes Leben hatte halten können. Dabei war sie ja angeblich noch viel zu jung, um depressiv zu sein. Zumindest hatte man ihr das gesagt. Bitter verzog Ran ihre Lippen. Wenn man ihr nur zugehört hätte. Wenn es nur jemanden gegeben hätte, der sich für sie interessierte. Wenn ihr nur irgendjemand geglaubt hätte. Aber das war sie nicht wert gewesen. Warum auch? Was gab es, was sie zu einem besonderen Menschen machte? Was gab es, was sie auszeichnete, was konnte man an ihr lieben? Nicht einmal ihr Gesicht strahlte Schönheit aus, das Wesen zerfressen, schwarz, kalt, ein gähnender Abgrund in den sie selber gestürzt und nie wieder rausgekommen war. Ran bleckte die Zähne, Zorn stieg in ihr auf. Kein roter, glühender Zorn sondern ein schwarzer, kalter Zorn, Hass gegen die eigene Unfähigkeit. Wahrscheinlich hatten alle Recht gehabt. Siehatte gar keine Depressionen gehabt. Sie hatte nur Mitleid haben wollen, sie hatte nur Aufmerksamkeit gebraucht und war zu faul gewesen, sich der eigenen Gefühle zu erwehren. Und war es nicht tatsächlich so gewesen? Manchmal hatte sie ihre schwarzen Gefühle mit offenen Armen begrüßt, als ein alter Bekannter, wie einen vertrauten, guten Freund. Es war besser zu leiden und vorher zu wissen, dass es so geschehen musste, als sich auf etwas Neues einzulassen. Mit dieser dummen Hoffnung im Herzen,  dann enttäuscht zu werden, zerbrochen zurückgelassen, das Herz in Stücke mit einer weiteren Wunde in der Seele die zu einer wulstigen, hässlichen Narbe verheilen würde die sie entstellte.

Es hämmerte schwach, derletzten Kraft beraubt. Ihr Herz würde nicht mehr lange durchhalten,der Blutverlust tötete sie langsam und stetig. Auch ihre Sicht trübte sich, ein Schleier legte sich vor ihre Augen, ihr Verstand versagte bei dem Versuch, einen Gedanken in Worte zu fassen. Obwohl sie sich wehrte sank sie wie ein Sandsack in die Knie. Sie schwankte wie ein Grashalm im Wind hin und her.

Ein Bild kam ihr vor Augen. Ein Bild all jener Menschen, die vielleicht nie gewusst hatten, wie es ihr wirklich ging, sie aber immer innig geliebt hatten. Sie sah ihre Mutter. Natürlich würde sie weinen, natürlich würde ihre Mutter am Boden zerstört sein. Ihre Mutter, ihre liebe Mama, die immer für sie da gewesen war. Der sie niemals gesagt hatte, wie sehr sie sie liebte. Nichts als Sorgen hatte sie ihr bereitet und nun mutete Ran ihr ihren Tod zu. Ihr Vater; ihr starker Vater. Ihr verletzlicher Vater, die nie gut darin gewesen war, seine Gefühle in Worte zu fassen, weil Ran ihn schon so oft enttäuscht hatte, ihm schon so oft wehgetan hatte. Auch er würde weinen. Auch er würde sie vermissen. Er würde sich Vorwürfe machen, nicht für sie da gewesen zu sein, würde sich selber für ihren Tod verantwortlich machen. Ihr bester Freund. Was hatten sie nicht alles geplant für ihre Zukunft? Wohin würden sie reisen, was unternehmen, welchen Beruf annehmen. Alles zusammen. Keiner konnte ohne denanderen Leben, keiner wollte ohne den anderen Leben. Was hatte sie ihm angetan?

Plötzlich erschien ihre Schwärze ihr nicht mehr ganz so dunkel. Sie meinte, ein Licht erkennen zu können, jetzt, wo sie ihre Perspektive so radikal verändert hatte. Und nicht der Tod war das Licht, das Leben war es. Die Liebe. Sie hatte ihr Leben nur gegen etwas anderes tauschen wollen und merkte erst jetzt, dass es alles war, was sie überhaupt jemals besessen hatte, ein Wunder, dass ihre Eltern ihr geschenkt hatten. Ein Wunder, das ihre Mutter unter Schmerzen in diese Welt geboren hatte. Und Ran warf alles weg.

Sie wollte wieder zurück, sie wollte den Schnitt rückgängig machen, zurück in ihr Leben, zu den Menschen, die sie liebte.

Sie kippte nach vorne, lag in ihrem eigenen Blut.

Ihr Herzschlag verhallte wie der eines Schmetterlingsflügels im Nichts.

Silence says a lot more than you thinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt