Es kommt nicht auf Schönheit an. Das hatte man zumindest dem kleinen Leimkraut gesagt, dass sein weiß-rosa Köpfchen nun endlich zaghaft aus dem Boden streckte. Es faltete sehr unkokett seine Blätter, zerzaust sah es aus. Aber es war da. Etwas früh für eines seiner Art; es war erst Anfang Mai und noch kein anderes Leimkraut ließ sich blicken, nicht mal die Rosen waren erblüht, sie bereiteten sich noch in aller Ruhe in ihren Knospen auf ihren großen Auftritt vor.
Die Sonne schien warm auf die Waldvergissmeinnicht, die Maiglöckchen und den herrlich roten Klatschmohn hinab. Sie wirkten alle noch so schläfrig nach dem langen Winter, sie sagten wenig und wiegten sich zumeist nur sanft in der Frühlingsbriese. Das kleine Leimkraut tat es ihnen nach. Es war glücklich. Was wollte es mehr? Die Sonne schien auf es, der Wind erfrischte ihm die Blätter und ab und an kam eine kleine Biene vorbei und unterhielt sich mit ihm.
Eines Tages kam ein kleiner Junge vorbei. Er streifte ziellos zwischen den dornigen Rosensträuchern rum und schimpfte zwischendrin über das nutzlose Kraut, das nicht einmal schön aussah. Falls sich die jungen Blüten in den fest geschlossenen Knospen beleidigt fühlten, so ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
Das Leimkraut betrachtete den Jungen. Es hatte so etwas noch nie gesehen, wie er da lief mit seinen zwei Beinen. Er beachtete es gar nicht, er schien es nicht einmal zu sehen. Doch das Kraut betrachtete ihn verzückt. Wie der Wind mit dem Haar spielte, wie wild und frei es aussah, lang und wellig, beinahe lockig, dicht und weich. Die beiden großen, glänzenden Augen, so warm in ihrer braunen Farbe, so schützend und tragend wie die Erde selbst, aus dem das kleine Leimkraut spross. Die Züge waren weich, aber intelligent, seine Töne, die das Kraut nicht zu verstehen vermochte, klangen zugleich bedacht und humorvoll. Der Junge kam jeden Tag auf die Wiese. Er bemerkte es nicht, doch es beobachtete ihn jeden Tag. Es dauerte nicht lange, und es war unsterblich in ihn verliebt. Es kannte jeden einzigen Zug seines Gesichtes auswendig, vermochte Bewegungen vorauszuahnen und wagte es sogar zu behaupten, Teile seiner sonderbaren Sprach zu verstehen. Der Wunsch, von ihm bemerkt zu werden, gesehen zu werden, beachtet zu werden, wuchs. Aber wie sollte es gehen, es war doch nur ein armes Leimkraut, ärmlich zum Anschauen und auch sonst nichts Besonderes. Es gab es sehr schnell wieder auf, ohne Glaube an sich selbst. Es beschloss, einfach zu lieben, mit vollem Herzen und ohne Rückhalt.
Es waren die Bienen, die es als erste bemerkten. Ein wundersamer Duft entströmte dem kleinen Kraut; süß und fruchtig, zart und so unendlich verliebt. Die Bienen besuchten es nun öfters, doch sie kamen nur für den Nektar. Es interessierte sie nicht, wenn das kleine Blümchen sie etwas fragte. Sie klaubten alles zusammen und flogen davon. Aber das störte das Kraut nicht. Es duftete weiter, tat das Einzige, was es konnte: Lieben.
Und dann blühten sie alle.
Die Lilien traten hervor, prächtig gelb tanzten sie im Wind, die Rosen entfalteten ihre Ballkleider und die Dahlien rückten sich ihre Reifröcke zurecht. Sie waren so schön, so zart, so intelligent. Sie lachten versteckt zwischen den Blättern ihrer langen Stängel hervor. Und wie sie dufteten! Der Geruch war ganz anders als der des kleinen Leimkrautes, aber nichtsdestoweniger wunderschön und betörend. Nun kam der Junge öfter raus; er redete mit den Schwertlilien und brach sich sogar eine Rose ab, um sie mit sich zu nehmen. Die Brüder des kleinen Leimkrautes, die nun auch so langsam aus ihrem Winterschlaf erwacht waren, warnten es. Keiner von ihnen trug einen Duft. Sie warnten ihre kleine Schwester nicht in ihrer Liebe zu verschmachten. Doch das Blümchen gab nicht auf, jetzt erst hatte es sein einziges Talent erkannt, es liebte mit aller Kraft und duftete, so stark es konnte. Es liebte mit jeder Faser seines kleinen, einfachen Herzens.
Doch es war trotz allem nur ein kleines Leimkraut.
Die Liebe verzerrte es. Schon mit Anfang Juni war es verwelkt, braun hing sein Köpfchen herab. Einen letzten Blick erhaschte es auf den Jungen, der nichts ahnend über es hinweg stieg und den Hortensien ein Lied seiner Bewunderung sang. Wie schön sie auch waren... und wie schlicht und arm es selbst, unwürdig. Wie hatte es auf die Liebe des Jungen hoffen können?
Das Leimkraut hauchte das letzte bisschen Duft aus sich heraus und zerfiel zu Staub, ungeliebt, einsam und gebrochen.
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Silence says a lot more than you think
Short StoryKurzgeschichten, die unter die Haut gehen, Storys über den Rand der Welt. Das Leben ist nicht einfach....also sind diese Geschichten es auch nicht. Pass ein bisschen auf, hör gut zu, und du wirst sie vielleicht verstehen.