Narben

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Regen rinnt die Haare hinab, tropft aus den Strähnen auf die Schultern. Perlen gleich schmiegen sie sich am Arm hinab, über den Handrücken und auf den Boden. Das gute am Regen ist, dass man die Tränen nicht sieht. Obwohl salzig verbünden sie sich mit ihren süßen Schwestern und einen sich an den Füßen zu einer großen Pfütze. Es ist nicht viel zu sehen, lange Wimpern umrahmen geschlossene Augen, ein schwarzes Rinnsal entweicht ihnen wo das Wasser die Mascara von den feinen Härchen gelöst hatte. Wie eine schwarze Träne sieht es aus. Braune Haare, von dem Regen durchweicht und leicht gewellt, fallen in dicken, schweren Strähnen über die wie schützend hochgezogenen Schultern, eine Art Vorhang vor der Welt. Den Kopf weit nach vorne gelegt sitzt er da, auf der untersten Treppenstufe. Keine Jacke umhüllt seinen Leib und nur der dünne Stoff seiner Jeans schützt ihn vor dem kalten Stein, auf dem er sich niedergelassen hat. Die beringten Hände mit den schwarz lackierten Nägeln ruhen wie vergessen auf den angewinkelten Knien. Rot rinnt es an den blassen Fingern, lang und fein wie die eines Pianisten, entlang; leblos und schwach hängen sie herab. Die Klinge liegt nur wenige Zentimeter daneben, eine kleine, dünne, so unendlich labile Rasierklinge, doch scharf wie kaum eine andere Waffe.
Nicht weit von der kleinen Treppe, die zu einer schäbigen Eingangstür geleitet, ist eine Schule, gleich die Gasse hinab, am Ende der Straße zu erkennen. Kinder kreuzen die Ausfahrt, man sieht lachende Gesichter unter bunten Regenschirmen, doch Stille umgibt den Sitzenden wie eine Blase. Auch er selbst bringt keinen Ton hervor, obwohl die Lippen wie unter Schmerzen beben. Nur schwerlich lassen sich auf der Haut, so blass als seie sie aus Schnee, die dünnen Fäden erkennen. Fein und kunstfertig laufen sie im Kreuzstich über die weißen Lippen und versiegeln sie.
Ein Narbe des Desinteresses.

Alles scheint grau. Die Häuserwände sind es, der Asphalt ist es, sein Pullover. Sogar der Himmel spiegelt sich von Wolken verhangen grau in den Pfützen, die der Regen auf dem Boden hinterlässt. Umso stärker sticht das Rot hervor, einem Comic gleich zieht es magisch den Blick auf sich, wie es dort den Zeigefinger hinabtropft. Langsam hebt er den Kopf. Er legt ihn in den Nacken und öffnet die Augen, sendet einen Blick einem Hilferuf gleich gen Himmel. Erst jetzt sind die weißen Pupillen zu erkennen; wie ein Schleier hatte sich die Farbe über seine früher einmal grünen Augen gelegt. Nun sind sie leer und blind.
Eine Narbe der Einsamkeit.

Etwas glitzert auf. Ein Ring schmückt die auffallend hübsche Nase, deren Rücken sich in einem eleganten Schwung an das Gesicht mit den zarten Zügen schmiegt. Noch keine Falte ist zu sehen, die Jugend liegt glatt und blechern über allem. Tränen, von der Veränderung der Kopfposition zu einem neuen Weg gezwungen, rollen an den Schläfen hinab an der Stelle vorbei, an dem die Ohren liegen sollten und verschwinden in dem dichten Haarschopf. Statt der Ohren sind zwei große, schlecht verheilte Narben zu erkennen, die wulstig und hässlich das ansonsten so schöne Gesicht verunstalten.
Narben der Inakzeptanz.

Die Pfütze zu seinen Füßen ist nun überwiegend rot. Seine Haut weiß aus wie ein Papier, die Augen leer. Die Lippen hören auf zu beben ein Knie rutscht weg. Die Farbe ist so hübsch in dem ewigen grau, warm sieht es aus, voller Leben. Er kippt zur Seite weg, runter von der Treppe auf den harten Asphalt, und bleibt regungslos liegen. Langsam breitet sich der Farbtupfer um seinen Körper aus, umrahmt ihn wie ein sicheres Nest.

Eine Narbe der Verzweiflung.

Silence says a lot more than you thinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt