Der Wandersmann

10 1 0
                                    


Für ein Reiseziel erschien es dem einsamen Wanderer doch etwas düster. Das große Schloss mit den drei Türmen hätte Märchenhaft wirken können, hätte nicht der ganze Dreck und Staub sogar außen an den Mauern geklebt. Spinnweben zogen einen grauen Schleier über das Gestein und und hinterließen damit einen knöchernen Eindruck. Eine gespenstische Stille herrschte über dem Ort; der gesamte Burghof war wie leergefegt, nicht einmal eine Katze streunte um die Ecke oder ein bellender Hund war zu hören.

Fröstelnd ging der Wanderer weiter. Die Abnormität der Burg zogen ihn wie magisch an. Er wurde das Gefühl nicht los, an den Rand des Wahnsinns gelangt zu sein und seine unstillbare Neugierde trieb ihn weiter.

In der Stille verhallte sogar das Tappen seiner ledernen Stiefel lautlos, gedämpft von dem Staub, der einige Zentimeter dick in dem Burghof lag. Als er ihn zur Hälfte überquert hatte, schlug ihm plötzlich ein beißender, erdrückender Gestank nach Verwesung entgegen. Einen Moment lang glaubte er, beinahe ersticken zu müssen und er flüchtete durch das leise knarzende Haupttor in das Gebäudekomplexes. Erleichtert strich er sich das sandfarbene Haar aus der Stirn; hier war die Luft zwar dick aber wenigstens stank sie nicht.

Im Inneren sah es noch schlimmer aus, als im Burghof. Der Staub lag teilweise Knietief auf dem marmornen Boden und erschwerten das Vorankommen. Der Wanderer konnte ein heftiges Niesen nicht unterdrücken, was noch mehr Staub aufwirbelte. Auch hier schien alles menschenleer zu sein. So wanderte er eine Weile ziellos durch die Gänge und Säle, sah alles mit Schmutz bedeckt. Er irrte, ohne zu wissen, warum er den verfluchten Ort nicht einfach wider verließ. So wurde aus einem Wanderer ein Suchender, ohne das er überhaupt wusste, was er zu finden erhoffte.

Endlich stieß er eine besonders große Flügeltüre auf und es bot sich ihm ein erschreckendes Szenario. Er befand sich auf der obersten Stufe eines riesigen Amphitheaters, das sich wie ein riesiges Maul nach oben hin zu öffnen schien. Die Stufen waren sehr dunkel während der Grund , der mit einer unregelmäßigen Farbe in rot gestrichen war, stark beleuchtet wurde. Eine dunkle Gestalt stand in der Mitte, ganz in schwarz gekleidet. Von der dem Wanderer gegenüberliegenden Seite des Theaters zerrte eine zweite schwarzgekleidete Gestalt einen schmutzigen, stolpernden Mann die Stufen hinunter. Der Wanderer konnte die zwei Menschen im Halbdunkeln kaum ausmachen.

In der Mitte angekommen, übergab die zweite Gestalt den Mann an die Erste. Diese trat dem ihm in die Kniekehlen, zog ein Schwert aus den Falten seines langen Gewandes und schlug dem Knieende gnadenlos den Kopf von den Schultern. Erst jetzt begriff der Wanderer, dass der Boden keineswegs rot gestrichen worden war; es war Blut, das den gesamten Boden besudelte, an manchen Stellen bereits dunkel getrocknet an anderen wiederum noch hell und glänzend frisch.

Starr vor Schreck und entsetzen beobachtete er, wie eine dritte dunkle Gestalt wie aus dem Nichts auf dem unteren Treppenabsatz auftauchte und die Leiche entsorgte. Alles geschah mit einer unwirklichen, beinahe schreiend lauten Stille, die einem das Trommelfell ins Gehirn zu pressen schien. Ein plötzliches Kichern riss den Reisenden aus seinen starren Beobachtungen. Suchend blickte er sich um, aber das Licht der Mitte des Saales hatte ihn so geblendet, dass er die Dunkelheit um ihn herum für einen Moment nicht zu durchdringen vermochte. Eine zweite armselige Kreatur, diesmal war es ein Frau in einem zerrissenen Kittel, wurde in das Amphitheater geschubst. Ein weiteres Kichern. Es war zwar leise, hatte aber einen schrillen, wahnsinnigen Unterton. Die Augen des Wanderers gewöhnten sich wieder allmählich an die Düsternis und er konnte einen Gestalt zu seiner Rechten ausmachen. Unsicher machte er ein paar Schritte auf sie zu; wieder war ein Kichern zu hören, diesmal nach der Enthauptung der Frau.

Als er näher trat, konnte er einen König erkennen. Er sah seine große Krone, den herrlichen, staubbedeckten Mantel und das edle Profil, dass königlich erschien wenn auch es vom Irrsinn verzehrt war.

Ein neues Opfer, ein weiteres Kichern. Verängstigt und mit der Übelkeit kämpfend blieb der Wandersmann neben dem König stehen, bis dieser zwischen zwei leisen Kichern flüsterte:

„Ich mag kein Blut. Es bereitet mir Übelkeit."

„Warum seht Ihr Euch dann dieses Schauspiel an?", fragte der Suchende, automatisch genauso flüsternd.

„Nun, ich bin der König. Es ist meine Pflicht."

Kichern.

Schweigend beobachteten sie eine Weile die Monotonie des Mordens.

„Warum passiert das?"

„Hihi. Sie sind verurteilt, sind sie. Sie werden hier hingerichtet. Ich bin der König. Hihi. Ich muss beiwohnen."

„Was haben sie getan? Warum werden sie hingerichtet?"

Kichern.

„Das weiß ich nicht. Aber sie sagen, dass sie hingerichtet werden müssen. Und sie sagen, dass es in meiner Macht stünde, dass auch geschehen zu lassen. Hihi."

„Wer sind sie?"

„Sie sind sie. Sie sind meine Berater. Sie sagen, was gut für mich ist. Und ich tue es. Hihi. Wenn sie sagen, diese Menschen sind böse und sollen hingerichtet werden, dann tue ich das. Ich tue alles was sie sagen, denn sie wollen nur mein bestes. Und sie geben mir meine kandierte Ananas."

Kichern. Erst jetzt sah der Reisende, wie fett der König war. Sein gigantischer Bauch quoll weiß und schwammig unter seinem Wams hervor, die dicken Backen hingen wabbelig herab und die aufgequollenen Wurstfinger langten immer wieder in eine kleine Packung auf seinem Schoß, in der sich vermutlich die kandierten Ananas befanden und stopfte sich einen nach dem anderen in den Mund; doch geschah dies so lautlos wie die Enthauptungen. Genau genommen waren Worte und Gekicher das einzige, dass der arme Wandersmann überhaupt vernahm.

Entsetzen und Grauen machte sich in ihm breit.

„Euer Majestät, sie, wer auch immer sie sind, nutzen euch aus! Sie bestechen euch. Sie machen euch zu einer Marionette"

Kichern.

„Das weiß ich doch. Das weiß ich schon lange. Ich sitze seit vielen Jahren hier und sehe ihnen zu, was sie machen... aber was soll man tun? Hihi. Wenigstens die Ananas sind lecker..."

„Ihr sitzt schon viele Jahre hier...?"

Ihm brach die Stimme weg.

„Wie viele Menschen sind hier zu Tode gekommen?"

Kichern.

„Hihi. Ganz viele. So geht es schon fast ein halbes Jahrhundert. Seit du eingetreten bist, haben sie schon zehn ermordet. Hihi. Ich habe sie alle aufgeschrieben, die Namen. Jeden einzelnen..." und mit diesen Worten deutete er auf ein winziges, natürlich staubiges und höchstens fünf Seiten dickes Büchlein unter der Schachtel mit dem Naschwerk.

„Ich habe jeden Namen darin aufgeschrieben, hihi" wiederholte er. „Alle, die waren, und alle, die in den nächsten Jahren bis zu meinem Tod noch kommen werden,hihi."

„Aber wie ist das möglich?" fragte er erstaunt. „Das müssen doch etliche, unendliche Namen sein. Wie sollen sie in ein so kleines Heft passen?"

Es folgte kein Gekicher. Das Gesicht des Königs war plötzlich sehr ernst und traurig. Der Irrsinn wich aus seinen Zügen und er sah plötzlich sehr alt, sehr müde und sehr weise aus.

„Es sind vergessene Namen" erklärte er, so leise, dass der Suchende seine Ohren spitzen musste. „Es sind gebrochene, verstümmelte, schwache Namen. Sie wurden schon vergessen, bevor das Blut ihres Trägers vergossen wurde. Solche Namen brauchen nicht viel Platz."

Mit trauriger Miene sah er auf seinen Schoß, die Hände schlaf neben der Ananasschachtel und ohne das Verlangen, sich eine weitere Süßigkeit zu genehmigen.

Das Morden ging leise weiter.

Silence says a lot more than you thinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt