Dämonen und Engel

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Sie konnte sich noch erinnern, wie sie in ihr Leben getreten waren, die Dämonen. Mit verzerrten Fratzen waren sie vor ihr aufgetaucht, ein Produkt ihrer eigenen Angst. Seitdem begleiteten sie sie. Jessica war eigentlich ein normales Mädchen, sie hatte gelegentlich Liebeskummer, zog sich gerne hübsch an und verbrachte viel zu viel Zeit an ihrem Handy. Nur das die Dämonen nicht fortgingen. Sie war noch ein Kind gewesen, als sie zum ersten Mal einen von ihnen gesehen hatte. Damals hatte sie es nicht verstanden, sie war sich unsicher gewesen, ob es nicht ein Tier war, ein seltenes. Aber als sie merkte, dass keiner außer ihr die seltsam bedrohlichen Wesen sehen konnte, hatte sie Angst bekommen. Und das hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

Jessica lag da, die Augen weit geöffnet, obwohl sie in der absoluten Dunkelheit nichts erkennen konnte, nicht einmal die Wand, die sich nur wenige Zentimeter vor ihrer befand. Die Schwärze drückte schwer gegen ihre Augäpfel, die sich seltsam trocken und wund anfühlten. Sie musste nichts erkennen; sie spürte die Blicke auf ihr Ruhen. Sie hatte ihnen wie ein kleines Kind den Rücken gekehrt in der Hoffnung, dass sie sie nicht sehen konnten, wenn sie den Blickkontakt vermied.

Ein Auge tränte.

Wenn sie leise war, konnte sie es atmen hören, nur wenige Meter hinter ihr, vermutlich am Rande ihres großen, aber leeren Bettes. Sie wusste, dass es nicht gehen würde. Es war nie gegangen. Manchmal, wenn sie ganz glücklich oder einfach nur viel zu müde war, vergaß sie sie einfach. Erlaubte sie sich keinen Gedanken an sie, konnte sie schlafen. Aber heute war es nicht so, blind starrte sie in die Dunkelheit.

Irgendwann war die Nacht vorbei. Sie war eingeschlafen, konnte aber nicht sagen, wann es gewesen war. Ihr Körper hatte sich genommen, was er brauchte.

Sie schlug die Decke weg und stand auf, jede Bewegung langsam. Sie fühlte sich so müde, so fertig. Ihr wurde schwindelig und sie hoffte beinahe, zu Boden zu stürzen. Es wollte nicht geschehen.

Das Badezimmer war der einzige Ort, an dem es einen kleinen Spiegel gab. Jessica hasste Spiegel, denn die Dämonen liebten sie. Man gewöhnte sich niemals an ihre Anwesenheit. Monster verstecken sich gerne in dem dünnen Silber hinter der Schicht Glas. Sie wagte einen flüchtigen Blick. Sie erkannte dunkle Augenringe, strubbeliges Haar und unreine Haut, ehe sie hastig wieder woanders hinblickte. Schon in diesem Bruchteil einer Sekunde hatte sie es gesehen, ein Schemen, drohend hinter ihr. Sie vermied einen weitern Blick und schnappte sich ihre Zahnbürste. Schnell schnell, bloß raus aus dem Raum mit dem verfluchten Spiegel.

Manchmal sah man auch Spuren. Narben auf ihren Armen, ihren Beinen, Dunkelheit in ihren Augen. Viele Schnitte kamen von den Monstern. Sie kratzten Jessica manchmal, wenn sie nicht gut aufpasste. Sie bissen sie. Schnitten sie mit winzigen, schartigen Messern. Aber die meisten der Narben entsprangen ihrer eigenen Hand. Manche waren lang und gerade, manche hatte sie mit zittrigen Fingern in ihr Fleisch gezeichnet; es war wunderlich wie tief so ein kleines Künstlermesser schneiden konnte. Ihre Haut war ihre Leinwand, ihr Schmerz die Inspiration. Sie konnte sich an ihm festhalten, er war ihr vertraut. Wann immer Jessica sich über dem tiefen Schnitt krümmte, verschwanden die Monster um sie herum. Einsamkeit war besser als diese Gesellschaft, Schmerz besser als die Angst.

Irgendwann hatte Essen seinen Reiz verloren. Es war noch nicht lange her... früher hätte sie zu einem guten Happen nicht nein sagen können. Nun ekelte sie der Gedanke an Nahrung. Jessica bemerkte es kaum wie ihre Wangen einfielen und ihre Rippen schmerzhaft hervortraten. Sie sah nur die Dämonen.

Ihre Lippe platze auf als Jessica hastig ein Stück Brot aß. Trocken und rissig war die strapazierte Haut unter dem Druck der Bewegung gerissen und ein wenig Blut trat hervor. Sie hatte keine Zeit dafür, sie musste arbeiten gehen, diesen Ort verlassen, an dem sie allein mit den Monstern war. Rasch nahm sie sich ein kleines Glas von der Anrichte und fühlte es mit kaltem, frischem Wasser. Sie zwang sich zum Schlucken, würgte ob des hassenswerten Geschmackes und spürte, wie ihr Kreislauf leicht wankte. Keine Zeit, sie musste los. Sie rannte beinahe.

Unter Menschen war es meistens einfacher. Nicht, dass die Dämonen dann weg waren. Sie standen oft hinter jenen, mit denen Jessica gerade sprach. Aber sie konnte sie besser ignorieren. Sie konnte lachen; immerhin verlangte man das von ihr. Doch manchmal, ganz selten, war es schlimmer. Manchmal brauchten sich die Dämonen nicht hinter irgendjemandem verstecken. Dann waren diese Menschen die Monster, mit geifernden Fratzen und kalten Augen, schwarz wie eine frostige Winternacht. Sie konnte den Hass in ihnen sehen, das einzige Licht in der Dunkelheit, genauso pechschwarz und verdorben wie der Rest.

So ging es seit Jahren.

Bis ein Engel in ihr Leben trat.

Seine schützenden Schwingen breiteten sich zwischen ihr und ihren Peinigern aus. Sein Verstand von strahlender Schönheit, das Herz rein. Die Flügel waren schwarz, aber von einem warmen Ton wie Ebenholz. Für Jessica war es die schönste Farbe. Wie oft hatte sie gebetet, zu Gott und seinen wunderbar weißflügeligen Engeln. Keiner hatte sie erhört, sie hatten auf sie hinabgeblickt, die Monster in ihren Gesichtern, hatten über sie gelacht oder sie ignoriert. Wer sagte, dass nicht die Engel mit schwarzen Flügeln die wahren Boten von Friede und Liebe waren?

Der Engel verjagte sie nicht. Sie waren noch immer da, die Dämonen. Aber er legte nachts seine Federn wie eine Decke über Jessica, dass sie die Blicke nicht mehr in ihrem Rücken spürte. Er lächelte ihr zu, wenn sie über der Schulter ihrer Mutter wieder eines der Monster sah. Er hielt ihre Hand, wenn sie drohte, zusammenzubrechen. Trocknete ihre Tränen mit seinen Schwingen.

Die Narben blieben. Ihre Rippen waren noch immer deutlich unter der fahlen Haut zu erkennen. Das Leben war noch immer nicht in ihren Blick zurückgekehrt. Doch sie konnte wieder schlafen. Sie konnte lachen, wenigstens hin und wieder.

So konnte lieben. Das Leben. Die Natur. Die Menschen. Sich selbst. Den Engel.

Auch wenn die Monster blieben.

Silence says a lot more than you thinkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt