"Ich kann das nicht"

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Das Essen war natürlich fantastisch, wir waren vollgefressen und lagen länger als gewöhnlich auf der Couch. Unser Abendspaziergang wurde langsam, aber sicher zu einem Nachtspaziergang, es war schon 22 Uhr als es klingelte. Etwas verwundert blicke ich durch das Wohnzimmer – 3 Menschen hier, niemand fehlt... Vielleicht braucht ein Nachbar etwas...

Mit der geöffneten Tür war ich immer noch verwirrt, denn mich begrüßte ein Blumenstrauß, gehalten von einer sehr zugeschneiten Person.
Der Strauß bewegte sich und ich wurde von Nicole angegrinst. „Überraschung!", sagt sie leise. Vor Schock und Freude war ich kurz eingefroren, bevor ich sie in meine Arme schloss.
Eingefroren trifft sie auch ganz gut, sie war kalt. Eiskalt.
„Was machst du hier? Du warst vorhin doch noch in Deutschland?", frage ich immer noch verwirrt.
„Rami schwärmte gestern darüber, wie schön Weihnachten in New York bei Schnee sein soll, Papa und ich haben kurz darüber gesprochen und ich heute Nacht Flüge gebucht. Ist schon etwas frech, wie die Preise ansteigt über die Feiertage... Und ich dachte ich kann meinen wunderschönen Freund überraschen. Nur dachte ich nicht, dass es hier so sehr schneit. Ich bin komplett nass...", plappert sie schnell und ich ziehe Nicole in die Wohnung. Ihr Blick ging direkt auf die Schuhe meiner Mutter und ihrem Mann, sofort riss sie ihre Augen auf.

„Sie sind noch da? Ich dachte ich bin schlau und komm extra spät vorbei... Ich bin nicht bereit dafür...", flüstert sie panisch.
„Wir wollten gleich unseren Spaziergang machen, danach gehen sie nach Hause...", antworte ich noch schnell, bevor ich die Stimme meiner Mutter höre.

„Sebastian, wir können da.... IST DAS NICOLE?", den letzten Teil schrie sie wirklich. Wir konnten beide nichts sagen, meine Mutter stürmte zu meiner Freundin, nahm sie an den Händen, stellte traurig fest wie durchgefroren und nass sie durch das Wetter war.

„Ich wollte wirklich nicht stören, Mrs Stan... Ich wollte nur kurz Hallo sagen und wieder ge-", stammelt Nicole.
„Nein Kind, du bleibst hier, wärme dich etwas auf. Nimm eine warme Dusche, Seb gibt dir bestimmt etwas zum Anziehen, bis deine Kleidung getrocknet ist. Und nenn mich bitte Georgeta. Oder Seby? Danach können wir ja zusammen spazieren!".
Meine Mutter stiehlt meine Freundin, führt sie ins Badezimmer und schaut mich begeistert an. Schnell gehe ich Nicole hinterher, welche einfach nur verwirrt im Bad stand. Leise schloss ich die Tür hinter mir.

„Duschen und trockene Klamotten klingt wirklich gut...", flüstert sie, zieht angeekelt ihre Jacke, Pullover und Schuhe aus. Ich bereitete schnell den Trockner für sie vor, werfe ihre Jacke und Pullover direkt hinein, verschwinde wieder aus dem Bad und suche in meinem Kleiderschrank nach ein paar Klamotten für sie. Meine Mutter stolzierte mir hinterher und war von diesen paar Sekunden schon begeistert von Nicole. Glücklich erzählt sie mir, wie hübsch sie ist und wie nett sie scheint. Natürlich stimmte ich ihr bei allen Punkten zu und musste sie fast stoppen. Ihr Mann war von der Situation mindestens genauso verwirrt und überrascht wie ich. Als ich hörte wie das Wasser ausgestellt wurde, wartete ich noch kurz bevor ich anklopfte.

„Du kannst reinkommen, Seb.", antwortet Nicole sanft. Also trat ich ein und war überrascht, weil Nicole im Handtuch eingewickelt auf dem Boden lag.
„Was ist los, Engel?", frage ich vorsichtig, lege die Klamotten an das Waschbecken und lege mich neben sie.
„Es war dumm hier her zu kommen, wirklich dumm. Heute ist kein guter Tag, um ehrlich zu sein ist es ein furchtbarer Tag. Kann ich einfach hier liegen bleiben?", spricht sie schnell und starrt weiter die Decke an.
„Meine Mutter würde vor Sorge die Tür eintreten, wenn du nicht rauskommen würdest...", gebe ich ehrlich zu. Meine Mutter ist nicht aufzuhalten, wenn sie von etwas oder jemanden begeistert ist.

„Es gibt drei Tage im Jahr, die wirklich scheiße sind für mich und an denen ich emotional kaputt bin, heute ist einer davon.".

Fuck, ich denke sofort an den Todes- und Geburtstag ihrer Mutter. Aber was ist der dritte Tag? Gibt es noch mehr traurige Vergangenheit? Hat sie noch jemanden verloren? Ist es der Tag, an dem ihr Expartner unvorstellbares getan hat?

„Heute vor 23 Jahren, sagte der Arzt uns, dass Mama sterben wird..., dass es keine Besserung geben wird. Jedes Jahr fühle ich den Schock und den Schmerz von damals. Und jedes Jahr denke ich, es wird nicht so schlimm, aber immer wieder überrollt es mich..."

Vorsichtig rutsche ich auf, führe meinen Arm unter ihren Kopf und halte ihre Hand.
„Ich kann heute nicht. Ich kann das heute nicht. Deine Mutter ist zu viel? So wie sie mich gerade schon überfallen hat, will sie viel Wissen. Ich kann heute ihr nicht über meine Familie und mein Scheißleben erzählen, ohne zusammenzubrechen. Deine Mutter wird mich hassen, sie wird mich so sehr hassen und ich will nicht, dass sie mich hasst. Ich mag dich und will viele Jahre mit dir verbringen und das kann ich nicht, wenn deine Mutter mich hasst. Deine Mutter darf mich nicht hassen!", weint sie plötzlich und überschlagt sich fast mit ihren Worten. Ich versuchte sie zu beruhigen, legte ihr einfach irgendwann meine Hand auf ihren Mund. Langsam verlangsamte sich ihre Atmung und die Tränen in ihren Augen wurden weniger.

„Du atmest noch ein paar Mal durch, ziehst dich an und ich rede mit meiner Mutter, dass sie sich zurückhält und manche Themen nicht anspricht, in Ordnung? Sie ist so begeistert von dir, sie könnte dich vermutlich nicht hassen. Und Mom hat bestimmt Verständnis, sie ist ein Engel.", spreche ich ihr positiv zu und bekomme ein Nicken als Antwort. Schnell gebe ich ihr noch einen Kuss auf ihre Stirn, stehe auf und gehe aus dem Bad. Wie gedacht, springt meine Mutter förmlich auf, sobald ich aus der Tür trat. Sanft ziehe ich sie in die Küche und erkläre die Situation, natürlich erwähnte ich nur den Teil bezüglich Nicoles Mutter und nicht ihre Selbstzweifel und Panik.

Als Nicole zögerlich aus dem Bad kam, stürmte meine Mutter auch nicht gleich auf sie zu. Ich merkte, dass sie sich zurückhielt, aber sie war mehr bedacht. Ich hielt für einen Moment ein, war einfach verzaubert davon, wie niedlich Nicole in meinen Klamotten aussah. Es war ihr natürlich alles zu groß, trotzdem sah es auch noch gut aus.

Meine Mutter lud Nicole auf die Couch ein, bat ihr einen Tee an und sprach Nicole auf das Thema Musik an. Puh, sehr gut. Mom erzählte, wie sehr sie Klavier spielen liebte und dass sie mit Hilfe des Spielens die Realität ausblenden konnte. Auch dass jeder Tag, an dem sie nicht spielen konnte, ein schlechter Tag war. Klavier spielen war immer ihr Highlight des Tages. Sie erzählte von ihrer Liebe zur klassischen Musik und von ihren Lehrstunden.
Meine Freundin wirkte bereits entspannter, hörte meiner Mutter freudig zu und schneller als ich realisierte, waren die zwei in ein tieferes Gespräch vertieft. Ihr Mann und ich räumten in der Zeit die Küche auf und spülten ab. „Es ist lange her, dass Georgeta so aufgeblüht ist in einem Gespräch. Deine Freundin ist nicht nur ein Volltreffer für dich anscheinend.", witzelt er. Meine Küche sah wieder aufgeräumt aus, der Trockner war ebenfalls fertig und die zwei Damen? Immer noch im Gespräch, das Einzige was ich mithörte war, dass sie über Noten redeten. Naja, nicht meine Welt. Fix überprüfte ich ob wirklich alles getrocknet war und war schon fast ein bisschen stolz auf mich. Bis ich ihren Pullover in die Hand nahm.
Der war vorhin noch größer?
Der hatte vorhin nicht die Größe für ein Baby?
Fuck...

Schnell drehe ich ihn um und kann noch auf dem Zettel erkennen, dass er nicht für den Trockner geeignet ist.
Scheiße...
Warum hat sie auch Kleidung, die nicht in den Trockner darf?
Verdammt.

„Liebling, ich habe eine großartige Neuigkeit! Den Pullover, den du gerade trägst, gehört jetzt dir! Dann hast du immer etwas von mir bei dir!", grinse ich Nicole falsch an. Sie neigt ihren Kopf etwas zur Seite und schaut mich fragend an.
„Ich hätte so oder so irgendwann einen von dir gestohlen... was hast du mit meinem Pullover gemacht?"
Fuck, warum weiß sie direkt was los ist?

„Dein Pullover könnte einem Baby passen, aber dir leider nicht mehr... tut mir leid.", gebe ich schuldig zu und halte ihn hoch. Nicole und meine Mutter lachten laut los, sie kam auf mich zu und küsste meine Wange. „Es ist nicht schlimm, ich wollte den Pullover eh bald weggeben.", flüstert sie mir noch leise zu.
„Alles andere ist getrocknet und warm. Und nicht geschrumpft!".

Ein paar Minuten später liefen wir zu viert durch die verschneiten Straßen New Yorks, stoppten kurz am Rockefeller Center und beobachten die Menschen beim Eislaufen. Der Schnee hörte zum Glück etwas auf. Als wir damals hier ankamen, waren wir jedes Jahr hier. Jedes Jahr und ich habe mich nie getraut auf das Eis.

„Seb, hast du Lust eine Runde zu fahren?", fragt Nicole vorsichtig. Ihr Beanie hat sie tief ins Gesicht gezogen.
„Weißt du, jedes Jahr schauen wir hier nur zu. Jedes Jahr traue ich mich nicht, weil was ist, wenn ich hinfalle, und jemand schneidet mir mit seinen Schlittschuhen meine Hand ab?", frage ich entgegen, etwas abgelenkt, weil mein Kopfkino arbeitet. Erst lachte Nicole, verstummte dann aber wieder schnell.

„Aber du hast es noch nie versucht, ich helfe dir auch. Niemand schneidet dir deine Hände ab. Versprochen!", grinst sie schnell und blickt mich hoffnungsvoll an. Meine Mutter mischte sich mit ein und versprach, dass wenn ich es versuchen würde, macht sie es auch. Etwas überfordert stehe ich da, mit offenem Mund.

„Ich schaue wirklich lieber zu.", sage ich kleinlaut. Meine Mutter wendet ihren Blick sofort zu Nicole und sagt ihr, dass sie es gerne versuchen möchte. Auch ohne mich. Mein Stiefvater folgte und ich stand nun allein hier am Rand. Ich weiß auch nicht, warum ich vor Schlittschuhlaufen so eine große Angst habe, schließlich habe ich mich damit auseinandergesetzt und konnte lernen während I, Tonya. Aber meinen Schatten kann ich doch nicht überspringen...

Nach ein paar Minuten sah ich wie Nicole meiner Mutter half auf das Eis zu laufen, sie war wackelig und unsicher, hielt sich am Geländer fest. Nicole nahm eine Hand von meiner Mutter, mein Stiefvater die andere. Langsam fuhren sie und ich konnte sehen, wie meine Mutter sicherer wurde, was allerdings überraschend war, dass sie die Hand von ihrem Mann losließ und sich dann von Nicole führen ließ. Nach einigen Runden war meine Mutter standfest und fuhr allein. Immer wieder fuhr sie zwischen ihrem Mann und Nicole hin und her. Meine Freundin klatschte jedes Mal und freute sich, wenn meine Mom eine Strecke schaffte. Gott, ich liebe diese Frau...

„Siehst du? Es ist nicht so schwer.", strahlt Nicole mich an und deutet auf meine Mom. Ihre Nasenspitze und Wangen waren schon rot vor Kälte. Ich küsste sie kurz und erzähle, wie niedlich es aussah, sie mit meinen Eltern auf dem Eis zu sehen. Die zwei kamen auch auf mich zu geschlittert und strahlten. Nicole ging und fuhr ein bisschen vor sich her.
„Sebastian, gib dir einen Ruck. Es ist wirklich schön und nicht schwer!", lächelt Mom. Ich argumentierte dagegen, meinte noch, dass es doch fast schon Tradition wäre nur zuzuschauen.

„Traditionen müssen nicht immer gleichbleiben. Es tut gut sie zu ändern.", sagt sie noch leise bevor sie wieder weiterfahren.

Ach verdammt.
Etwas trotzig ging ich zum Verleih, nahm ein paar Schlittschuhe und war direkt überfordert. Wie bindet man jetzt die Scheiße?

„Du würdest auch als amputierter Schauspieler fantastisch sein. Brauchst du Hilfe?", fragt Nicole und setzt sich zu mir. Anscheinend habe ich sie nicht bemerkt. Sie band mir den einen Schuh zu, erklärte kurz wie und den anderen schaffte ich dann allein.

„Wenn ich eine Hand verliere, habe ich eine Hand weniger dich zu halten. Das ist meine größere Sorge im Moment.", sage ich leise und stehe auf. Bequem sind sie ja nicht unbedingt...
Nicole harkte sich ein, half mir das Eis zu erreichen.
„Du wirst deine Hand nicht verlieren, Liebling."

Mit einem Fuß auf dem Eis war ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht fliege ich auch so hin, dass ich direkt sterbe? Eine Kopfverletzung oder deformiertes Gesicht? Es gibt so viele Möglichkeiten. Zögerlich und auch nur weil Nicole mich anspornt, stelle ich meinen anderen Fuß auch aufs Eis. Das Geländer lasse ich jetzt bestimmt nicht los, oh nein. Sie blieb der geduldigste Mensch, den ich jemals kennen lernen durfte, erklärte mir alles und feuerte mich immer wieder an. Langsam lies ich das Geländer los und stand. Ich stand auf dem Eis. ICH STEHE!

Nicole stellte sich vor mich, nahm meine Hände und ganz vorsichtig befolgte ich ihre Tipps und tat ein paar "Schritte". Sie strahlte glücklich, fuhr rückwärts und lies meine Hände nicht los. ICH FAHRE! Oh Gott, das hätte ich niemals gedacht.
Langsam kamen wir zum Stehen, Nicole küsste meine Hand und zeigt auf meine Eltern am anderen Ende. „Wir schaffen es zu ihnen zu fahren, ich lass dich nicht los.", grinst sie noch bevor es weiter geht. Auf halber Strecke ließ sie eine Hand los, fuhr nun neben mir und es lief!?
Natürlich nicht schnell und elegant sah ich bestimmt nicht aus, aber ich bin noch nicht hingefallen und Rolle über das Eis. Und ich habe noch beide Hände!

Mom und ihr Mann applaudierten als wir sie endlich erreicht haben. „Es hat nur 38 Jahre gebraucht, bis mein Sohn endlich mal Schlittschuh fährt.", scherzt meine Mutter und sofort entgegen ich, dass sie auch noch nie gefahren ist.
„Doch, damals in Wien einmal. Ich bin hingefallen und hatte dann keine Lust mehr. Aber ich hatte ja auch nicht so eine liebe Hilfe wie Nicole heute.", strahlt sie meine Freundin an.

Wir wechselten wieder unser Schuhwerk und liefen zum Central Park. Als wir über die Gothic Bridge liefen, fiel es mir wieder ein; hier habe ich Nicole zum ersten Mal gesehen. Anscheinend fiel es ihr auch ein, denn sie schlägt mich sanft am Arm und grinst mich an.
„Warum strahlt ihr beide gerade um die Wette?", fragt mein Stiefvater lächelnd.
„Hier haben wir uns zum ersten Mal gesehen... hier hat mich Sebastian wortwörtlich überrannt.", antwortet Nicole schnell.
Meine Mutter fing auch an zu strahlen, forderte uns auf, dass wir ein Foto machen für die Erinnerung. Taten wir natürlich, mein Stiefvater fotografierte uns wie wir uns im Arm halten und strahlen.
„Ihr zwei seid ein wunderschönes Paar.", flüstert er uns zu als er uns sein Werk zeigt.

Wir beendeten den Spaziergang vor der Wohnung der zwei, es wurde viel umarmt und meine Mutter wiederholte sich einige Male, dass sie Nicole unbedingt wieder sehen möchte. Nach ein paar Metern weg von der Haustür fragte ich Nicole, ob es für sie in Ordnung war.
„Deine Mutter ist ein Engel, ich weiß nicht was du bei ihr erwähnt hast nach meinem kleinen Nervenzusammenbruch im Bad, aber es war schön. Es tut mir trotzdem leid, dass ich dir die Zeit mit deinen Eltern gekürzt habe, das wollte ich wirklich nicht."
„Im Prinzip hast du die Zeit verlängert. Ohne dich hätte ich nur eine halbe Stunde gehabt. Aber jetzt hatte ich noch zwei Stunde mehr und dich dabei. Ich fand es sehr schön, Engel."

Wir hielten noch kurz am Hotel von Sven und Rami, trafen uns kurz draußen und redeten etwas. Rami erzählte wie begeistert er von New York sei und öfters herkommen möchte. Auch Sven gab zu, wie schön es sei, auch wenn er kein Freund von Schnee und dieser Jahreszeit war.

at least 20 dates.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt