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Und natürlich kommt die Person, von der wir reden, genau in diesem Moment in mein Zimmer marschiert. "Und Todesknabe, wie fühlst du dich? Besser? - Oh, hi, Jason. Du hast ihn hoffentlich nicht geweckt?", bei dem letzten Satz nimmt seine Stimme einen strengen Unterton an. "Nein, Boss", meint Jason und salutiert gespielt ernst. Will verdreht lächelt die Augen. Danach wird sein Ausdruck wieder ernst.

"Wir müssen reden, Nico", sagt er. Sein Blick huscht zu Jason. Ich verstehe, was er meint. "Er kann bleiben", bestätige ich also. "Sonst wird er es eben nachher aus mir herausquetschen." Jason strubbelt mir lächelnd durch die Haare. "Wie recht du hast, Neeks." Will sieht zwischen uns hin und her, seine Augenbrauen sind zusammengezogen. "Okay", meint er schließlich. "Also ich war bei Chiron und habe mit ihm über deinen Zustand gesprochen. Er hat bestätigt, was ich vermutet habe. Du bist ständig kurz davor, dich in Schatten aufzulösen. Das kommt noch von deinen vielen Schattenreisen. Und wenn du dich körperlich anstrengst, hat dein Körper Probleme, deine Seele oder deinen Geist oder wie auch immer du es nennst, bei sich zu behalten. Deswegen bekommst du Atembeschwerden und fällst, wenn du dann nicht aufhörst, in Ohnmacht." Geschockt schauen Jason und ich ihn an. "Und was war das mit seinen Armen?", fragt Erster schließlich. "Anscheinend haben sich die Muskeln, die Nico braucht, um seine Arme zu heben temporär in Schatten aufgelöst", lautet die Antwort. "Es tut mir so leid, Todesknabe... Aber wenn du dich nochmal überanstrengst, kann es passieren, dass du... dass du--" Ich bin wie erstarrt. Training und Missionen sind ein sehr großer Teil meines Lebens, ja ich würde sogar sagen meines Ichs. Wie soll ich ohne irgendwelche Anstrengung auskommen? Ich bin es doch gewohnt, mich zu bewegen, mein eigener Herr zu sein. Plötzlich macht sich ein komisches Gefühl in meinem Magen breit. Als wäre dort ein großer Knoten. Es mag für manche dumm klingen, aber ich brauche die körperliche Herausforderung, die physische Anstrengung, um meinen inneren Dämonen zu entkommen. Selbst die schlimmsten Albträume können dich nicht vom Schlafen abhalten, wenn du dich vorher in einem Schwertkampf mit deinem nervigen Freund Jason vollkommen verausgabt hast. Keine Gedanken sind so hartnäckig, dass du nicht eine kurze Zeit frei von ihnen bist, wenn du einfach anfängst zu laufen und nicht stehen bleibst, bis deine Lungen brennen und deine Beine schwer werden. Es ist ein Gefühl, als könntest du deine Gedanken kurz von deinem Körper trennen, wenn du über deine körperlichen Grenzen gehst, dich kurz in dem Rhythmus deiner Bewegungen verlierst.

"Kann man irgendetwas dagegen machen? Also dafür, dass er wieder fit wird? Er ist ein Halbgott und-", Jason beginnt geschockt auf Will einzureden. Auch für ihn als Römer ist es unvorstellbar, nie wieder zu trainieren. Gerade mit unserem ADHS ist es für uns Halbgötter alle so. "Ja. Aber der Prozess wird langwierig sein. Und wir wissen nicht genau, was am besten helfen wird. Chiron hat so etwas auch noch nie gesehen. Aber er meinte, wir müssen an das naheliegende denken." "Und das wäre?", frage ich. Meine Stimme klingt irgendwie heiser. "Nun ja, du gleitest in die Schatten ab, also wäre die logische Therapie möglichst viel Sonnenlicht. Außerdem kann dich niemand mehr berühren, wenn du dich auflöst, also ist viel Körperkontakt wahrscheinlich -" "Halt, stopp! Ihr wisst genau, dass ich nicht will, dass man mich berührt und überhaupt-" "Oh nein, Neeks! Hier geht es nicht nur um deine Gesundheit, sondern um dein Leben. Ein paar Umarmungen von Freunden pro Tag wirst du wohl aushalten!", Jason sieht mich wütend an. Will an seiner Seite nickt bekräftigend.

Ich schiebe die Unterlippe vor und seufze ergeben. Mit einer Handbewegung bedeute ich Will, weiterzureden. "Weiters brauchst du viel Wärme, ordentlich Essen und du musst jeden Tag in der Früh bei mir vorbeischauen, damit ich dich untersuchen kann. Achja und was besonders wichtig ist: wir müssen auch die Dunkelheit aus deinem Inneren vertreiben versuchen." Ich will gerade den Mund öffnen, als Jason sich plötzlich einschaltet: "Sag gar nicht erst, dass es dir gut geht. Ich weiß, dass du Albträume hast und dich noch einiges anderes belastet. Es gibt viel, was du nicht an dir akzeptieren kannst." Ich sehe ihn strafend an. Sollte er als Freund nicht zu mir halten? Abgesehen davon, weiß ich genau, was er mit "viel, das ich nicht akzeptieren kann" meint. Er meint die Sache wegen der Cupid mich schon fertiggemacht hat. Beschämt senke ich den Kopf bei dem Gedanken daran. Will legt zwei Finger unter mein Kinn, hebt meinen Kopf an und sieht mir fest in die Augen. "Wir können das hinbekommen, Todesknabe. Deine Freunde sind da. Ich bin da, okay?" "Okay."

Ich wälze mich unruhig auf die andere Seite. Nach unserem Gespräch hat mir Will erlaubt, wieder in meine Hütte zurückzukehren. Natürlich nicht ohne eine Umarmung von Jason. Wir müssten schließlich gleich mit der "Therapie" beginnen. Ein kleiner Teil von mir ist enttäuscht, dass mich Will nicht auch umarmt hat, aber ich versuche ihn schnell zum Schweigen zu bringen. Er ist nur mein Arzt. Und er kümmert sich nur um mich, weil es sein Job ist. Deswegen hat er mich auch so warm angelächelt, als ich mit Jason die Krankenstation verlassen habe. Und nur deswegen hat er mir nachgerufen: "Ich seh dich morgen beim Frühstück, Todesknabe!" Nichts Besonderes. Und ein weiteres Percy-Drama kann ich mir echt sparen.

Jason hat mich zu meiner Hütte begleitet und ich habe mich nach der unvermeidlichen zweiten Umarmung gleich in mein Bett gelegt. Ich bin sooo müde. Aber jetzt finde ich einfach keine angenehme Position. Meine Gedanken wirbeln in meinem Kopf und ich kann sie nicht aufhalten. Es ist wie ein unaufhörlicher Strom. In den letzten Wochen ist so viel passiert. So viel Grausames. Ich habe so viel Tod um mich herum gespürt, wie schon lange nicht mehr. Ich habe die Schatten gespürt, wie sie an mir ziehen. Wie sie mir zuflüstern, ich solle nachgeben und doch einfach zu ihnen kommen. Eins mit ihnen werden. Und wenn ich an Biancas Gesicht denke, das ich nie wiedersehen werde, oder die Tatsache, dass ich mich trotz allem so unglaublich alleine auf dieser Welt fühle oder an die vielen schlimmen Taten, zu denen ich mich gezwungen sah oder die Schrecken, die ich im Tartarus gesehen habe, das Elend, in dem die meisten Leben enden, dann habe ich oft das Gefühl, es wäre das Beste ihnen nachzugeben. Die Dunkelheit, die in mir ist und die mich nicht mehr loslässt, würde ganz einfach mit den Schatten verschmelzen. Sie würde nicht so herausstechen wie hier im Camp. Sie wäre an ihrem Platz.

Wieder drehe ich mich auf die andere Seite. Manchmal wünsche ich mir in solchen Momenten, ich könnte weinen. Einfach um meine Frustration und meine Trauer und meine Wut und meine Verzweiflung und meine Hoffnungslosigkeit rauszulassen. Aber heute kann ich das nicht. Heute haben mich all diese Gefühle so sehr erstarren lassen, dass es sich fast anfühlt, als würde ich gar nichts mehr fühlen. Das ist wohl eine Art Schutzmechanismus. Die Seele will keinen Schmerz zulassen, von dem sie weiß, dass sie ihn nicht aushält.

Nach einer Stunde schlafe ich endlich ein. Doch meine Hoffnung, dass der Schlaf kurze Erlösung bringt, wird nicht erfüllt. Denn wieder Träume ich.

Bleib.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt