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Ich bin auf einer dunklen Lichtung in einem Wald. Das Licht der untergehenden Sonne ist noch stark genug, um die Zelte um mich herum zu beleuchten. Es sind die Zelte der Jägerinnen. Bianca steht vor mir und sieht mich an. "Nico", haucht sie. Dann dreht sie sich um und will gehen. Aber ich kann es nicht zulassen, dass sie das tut. Denn ich weiß, wenn sie weg ist, bin ich alleine. Sie ist die Letzte, die noch da ist. Ich möchte nicht allein sein. Alles in mir schreit danach, sie aufzuhalten. "Nein, Bianca! Verlass mich nicht! Bitte", schreie ich. "Aber ich will, Nico", sagt sie mit fester Stimme, während sie sich zu mir umdreht. "Das ist das Richtige für mich." "Aber ich brauche dich doch", wispere ich. Plötzlich verändert sich ihr Gesichtsausdruck. "Ich dich nicht, Nico", erklärt sie mir ernst. Ihre Worte sind wie Dolchstoße in mein Herz. "Ich habe immer auf dich aufpassen müssen. Jetzt nicht mehr. Ich will dich nicht mehr in meinem Leben. Glaubst du, es ist lustig, immer einen nervigen kleinen Bruder an der Backe zu haben? Du bist nicht mein Kind! Und ich möchte auch leben! Mit dir kann ich das nicht." "Bianca, es tut mir leid! Ich kann mich ändern, ich-" "Es ist zu spät, Nico. Das hier ist meine neue Familie und du-", plötzlich bricht sie mitten im Satz ab und steht mit offenem Mund da. Dann sinkt sie langsam auf die Knie. Geschockt renne ich zu ihr. Ein Pfeil steckt in ihrem Rücken. Das Gras um sie färbt sich rot. Rot von ihrem Blut. Ich schreie, versuche die Blutung zu stoppen, aber als Hadeskind weiß ich, dass ihr Leben schwindet. Meine Hände sind voller Blut, ich knie auf der Erde und höre sie ihren letzten Atemzug nehmen. Dann höre ich plötzlich eine Stimme neben mir: "Deine Schuld"

Ich schrecke auf. Mein Atem geht keuchend. Mein ganzer Körper zittert und bevor ich sie aufhalten kann, rinnen die Tränen in Sturzbächen über meine Wangen und gepeinigte Schluchzer kommen aus meiner Kehle. Ich rolle mich zusammen und wiege mich selbst hin und her, um mich zu beruhigen. Es hat keinen Sinn. Also versuche ich es mit etwas anderem und gehe ins Bad. Dort spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Aber ich muss einfach hier raus. Schnell stürze ich zur Tür und trete in die kalte Nachtluft. Sofort überzieht eine Gänsehaut meine Arme, doch das ist mir gerade egal. Ich setze mich auf die Treppen meiner Hütte und versuche meine Atmung immer noch in den Griff zu bekommen. Einatmen. Ausatmen. Plötzlich höre ich Schritte und zucke heftig zusammen, als ich plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit höre.

"Nico." Die Stimme klingt sanft und beruhigend. Will. Ich sehe ihn im schwachen Licht der Laterne meiner Hütte vor mir stehen. Er trägt nur Shorts und ein Camp-T-Shirt. Er wirkt müde. So, als wäre er gerade aufgewacht. "Was ist los?", fragt er sanft. Ich will ihm antworten. Ihm sagen, dass es nur ein Traum war und alles okay ist. Aber aus meinem Mund kommt nur ein hilfloses Wimmern. Da beugt Will sich plötzlich herunter und setzt sich neben mich. Erschrocken zucke ich zurück, doch er lässt sich davon nicht beirren. Langsam legt er die Arme um mich und zieht mich ganz dicht an sich. Er ist so warm, dass ich die Kälte der Nacht gar nicht mehr spüre. Es gibt nur einen Nachteil. Kennt ihr das, wenn ihr euch beruhigen wollt und dann fragt euch jemand, was los ist oder nimmt euch in den Arm und plötzlich ist eure Selbstbeherrschung im Eimer und alles bricht wieder aus euch heraus? Ja? Genau das passiert mir gerade. Ich weine also gegen Wills Schulter und er hält mich einfach fest. Wartet, dass das Zittern und die Schluchzer aufhören. Streicht über meinen Rücken. Eigentlich mag ich Berührung von anderen Menschen nicht, aber jetzt ist es gerade irgendwie tröstlich. Und langsam bemerke ich, wie sich meine Atmung beruhigt und sich seiner anpasst. Als er das bemerkt steht er langsam auf und zieht mich so auch auf die Beine. Er dirigiert uns durch die Tür in meine Hütte und wir setzen uns auf mein Bett. Die ganze Zeit lässt er mich nicht los.

"Ich vermisse sie einfach so sehr. Jeden beschissenen Tag. Das Erste, was mir am Morgen klar ist, wenn ich aufwache und das Letzte, an das ich denke, bevor ich schlafen gehe, ist die Tatsache, dass sie nicht mehr da ist. Aber dann denke ich manchmal, dass es umgekehrt nicht so wäre. Dass sie mich nicht mehr bei sich haben wollte, als sie noch gelebt hat und dass sie das auch nicht tun würde, wenn ich tot wäre statt ihr. Das wäre besser, weißt du? Sie hätte euch allen viel besser gefallen, wäre eine viel größere Heldin gewesen", flüstere ich schließlich in die Dunkelheit. Irgendwie hat er ja eine Erklärung für meinen Zustand verdient. Wobei ich nicht weiß, ob mein Gebrabbel Sinn macht. Außerdem möchte irgendetwas in mir die Worte einmal aussprechen. Vielleicht hören sie auf in meinem Kopf zu wirbeln, wenn mein Mund sie einmal gebildet hat.

Will schüttelt den Kopf. Seine Arme schlingen sich wieder um mich. "Nein. Nein, Todesknabe. Es ist gut, dass du noch da bist, okay? Du bist wichtig und ein Held. Und Bianca hat dich geliebt. Über alles", sagt er nachdrücklich, bevor er sich von mir löst und mir fest in die Augen sieht. Seine Gesichtszüge werden von dem leichten Mondlicht, das in die Hadeshütte scheint, fast geisterhaft erleuchtet. Er ist wunderschön. Okay, Nico, stopp! Du hast jetzt wirklich keine Kapazität für das Drama einer weiteren unerwiderten Liebe. Du hast echt andere Probleme! Ich schaue in seine Augen, die mich so ehrlich durch das Halbdunkel anfunkeln. Er sieht mich an als... als wäre ich etwas Wertvolles. Etwas Wichtiges. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich das letzte Mal jemand so angesehen hat. Der Gedanke treibt mir schon wieder Tränen in die Augen. Eine findet den Weg zu meiner Wange. Will hebt die Hand und streicht sie mir weg. Dort, wo er meine Haut berührt hat, prickelt es. Ich frage mich, woher er denkt, das zu wissen. Und wieso denkt er, dass ich ein Held bin? Er hat doch gesehen zu was ich fähig bin. Abgesehen davon, hat er mich gerade heulend auf einer Treppe gefunden – heldenhaft ist da ja wohl anders. Warum müssen uns unsere Träume auch immer so plagen? Reicht es nicht, dass einem das Schicksal sowieso permanent überall reinscheißt? Kann da nicht wenigstens das Unterbewusstsein die Klappe halten?

All diese Fragen möchte ich stellen. Aber irgendwie käme mir das kindisch vor. Wenigstens kann ich jetzt, wo ich mit Will in meiner dunklen Hütte bin und spüre, wie seine Hand mir immer wieder über die Schulter streicht, wieder atmen. Ich bemerke, wie erstaunlich müde ich bin. Also löse ich mich von dem Blondschopf vor mir und rolle mich zu einer Kugel im Bett zusammen. Als ich gerade die Augen schließen will, bemerke ich, dass der Apollosohn seine Hände wegzieht und sich aufrichtet. Ich wälze mich herum und halte seine Hände fest. Erstaunt sieht er mich an und ich fühle mich irgendwie wie ein kleines Kind. Aber das ist egal. Ich will nicht alleine sein. Und schon gar nicht will ich, dass er mich loslässt. Egal wie armselig ich mich dabei fühle, ich bekomme ein ersticktes „Bleib" heraus. Seine Hände sind so warm und so ruhig wie sie da meine zitternden halten. Ich kann ihm nicht ins Gesicht sehen, weil ich den genervten Ausdruck darauf nicht sehen will. Bianca hat mich manchmal so angeschaut, wenn ich sie gebeten habe, bei mir zu bleiben, bis ich eingeschlafen bin, weil mir die Dunkelheit Angst machte. Ironisch eigentlich. Ich warte darauf, dass auch Will sagt, dass ich endlich erwachsen werden solle und er selbst müde ist. Doch er sagt nichts. Ich spüre nur, wie seine Daumen Kreise auf meinen Handrücken ziehen und wie er sein Gewicht verlagert und sich neben mir auf das Bett legt. Da kann ich ihm doch unsicher ins Gesicht blicken. Er sieht nicht genervt aus. Eher... verständnisvoll. Er wird dableiben, wird mir klar. Diese Tatsache lässt mich erleichtert aufseufzen, bevor ich die Augen schließe. Das Letzte, das ich wahrnehme, ist Wills Hand, die mir über die Haare streicht. Aber vielleicht habe ich mir das im Halbschlaf ja auch nur eingebildet.

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