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"Nico!", höre ich eine Stimme. Genervt wälze ich mich zur anderen Seite. "Todesknabe!" Nur eine Person nennt mich so. Ich blinzle und sehe wie erwartet Will vor mir. Nur ist er ein bisschen näher, als ich dachte. Überrascht springe ich auf. Will lacht. Seine himmelblauen Augen blitzen, sein Gesicht mit den vielen Sommersprossen strahlt mich geradezu an. Wie passend. Hinter ihm macht die aufgehende Sonne genau das Gleiche. Blöder Apollo. Er hätte ruhig noch eine Stunde warten können, bevor er sein Auto startet. "Und wieso weckst du mich?", frage ich grummelnd. "Es ist schon sechs Uhr", meint Will fröhlich. Als wäre das eine Erklärung und nicht eher das Gegenteil. Plötzlich huscht ein Schatten über das Gesicht des Sonnenscheins vor mir. "Aber was viel wichtiger ist: Was machst du hier? Warst du etwa die ganze Nacht hier draußen? Du weißt doch hoffentlich, dass der Boden in der Nacht viel zu kalt wird um diese Jahreszeit?! Du kannst dich da echt schlimm verkühlen! Was ist denn das Problem in deiner Hütte? Hast du dich vielleicht ausgesperrt? Dann hättest du doch zu mir kommen und mich um Hilfe bitten kön-" "Stopp, Will!", unterbreche ich seinen Redeschwall. "Es ist noch viel zu früh, um mit so einer Geschwindigkeit zu reden und nein, ich hab mich nicht ausgesperrt, ich wollte einfach nur raus. Da kann ich klarer denken." Ich beiße mir auf die Lippe. Den letzten Satz hätte ich vielleicht nicht hinzufügen sollen. Seht ihr was ich meine, wenn ich sage, Will hat etwas an sich, das mich immer mehr sagen lässt, als ich will? Er sieht mich an und ich sehe Verständnis in seinen blauen Augen aufblitzen. "Okay... nächstes Mal kannst du aber zu mir kommen, wenn du deine Gedanken ordnen willst. Ich bin super im Ordnen", er grinst. "Und für deine Gesundheit ist es auch viel besser, wenn du nicht hier draußen schläfst." Ich zucke die Schultern und gähne. "Ich meine es ernst, di Angelo", fügt er daraufhin streng hinzu. "So leichtfertig sollte man nicht mit seiner Gesundheit umgehen. Ich pflege dich nicht, wenn du morgen eine Verkühlung hast". "Was? Ich bin verletzt", schnaube ich ironisch und verdrehe die Augen. "A-ha. Du machst sowas also nur, um meine Aufmerksamkeit zu erregen", zieht er mich auf. Ungläubig ziehe ich meine Augenbrauen hoch und schaue ihn an. "Da hast du ja heute Glück. Ich habe zufällig noch einen Platz neben mir am Frühstückstisch frei, weil Austin heute Frühschicht hat. Du musst also nicht krank werden, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen", er lacht und zwinkert mir zu. Ich will schon zu einer verärgerten Erwiderung ansetzen, als er einfach meine Hand nimmt und mich Richtung Speisepavillon zieht. "Wer als erster dort ist!", ruft er begeistert, lässt mich los und beginnt zu rennen. Ich schüttle verwirrt den Kopf, bevor ich selber zum Sprint ansetze. Ich kann ihn ja nicht gewinnen lassen. Schließlich habe ich auch meine Ehre.

Und wer weiß? Vielleicht wird heute ja ein guter Tag.

Wir laufen auf den Speisepavillon zu. Ich bin ihm dicht auf den Fersen. Der leichte Morgenwind weht mir sein Lachen entgegen. Unglaublich, dass er bei dem Tempo noch lachen kann. Andererseits ist er bestimmt im Moment fitter als ich, was auch nicht besonders schwer ist.

Mein Atem geht mittlerweile stoßweise und ich fühle ein unangenehmes Brennen in meiner Lunge. Puh, ich bin echt außer Form. Das Schattenreisen hat mich ausgelaugt. In letzter Zeit habe ich schon öfter bemerkt, dass mir im Training schnell die Luft wegbleibt. Und dass meine Muskeln oft nicht mehr in der Lage sind, das Gewicht zu tragen, was sonst immer ein Leichtes für sie war. Frustrierend.

Es sind nur noch ein paar Meter zu unserem Ziel. Will dreht sich im Laufen nach mir um und wird langsamer. "Ist alles in Ordnung?", fragt er besorgt. "Ja, alles gut", versuche ich zu sagen, aber es kommt nur ein Keuchen über meine Lippen. Will bleibt stehen. Ich folge seinem Beispiel. "Hast du nach dem Frühstück was vor?", fragt mich der Apollosohn plötzlich. Der Themenwechsel kommt ein bisschen überraschend. "Schwertkampftraining mit Jason", meine ich schulterzuckend. "Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?" "Ja, alles gut", wiederhole ich bissig. Will zuckt leicht zurück. Doch in seinen Augen erkenne ich keine Angst, wie bei den anderen Campern, wenn ich etwas lauter werde. Vielleicht täusche ich mich ja, aber er sieht irgendwie... verletzt aus. Allerdings verschwindet der Ausdruck schnell wieder. "Wie du meinst. Kannst du dann bitte danach in die Krankenstation kommen? Ich würde dich gerne untersuchen." "Wenn es unbedingt sein muss", grummle ich. Wieso ist es ihm so wichtig, dass es mir gut geht? Kann ihm doch egal sein. Genervt verdrehe ich die Augen. Dafür, dass es erst kurz nach sechs Uhr ist, habe ich das eindeutig schon zu oft getan.

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