4. Am Rand der Klippe

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P.o.v unbekannt
Vor zwanzig Jahren

Es ist kalt. Der Wind lässt die Bäume wackeln und die Blätter wild umherfliegen. Immer und immer wieder streifen Äste die Arme des kleinen Jungen. Blätter fliegen ihm ins Gesicht, macht es dem Kleinen schwer die Augen offen zu halten. Instinktiv hebt er seinen linken Arm und legt sie schützend über seine roten Augen, die vom Weinen kommen.

Ihm ist kalt. Sehr kalt sogar. Er hatte nicht geplant aus dem Haus zu rennen, ganz ohne Jacke oder Pullover. Das Wetter sah vom Fenster nicht so schlimm aus, aber er hatte sich geirrt, bereut es aber nicht. Trotzdem hätte er gerne etwas warmes, schützendes über seinen Schultern. Vielleicht hätte er vorher besser nachdenken sollen. Aber worüber hätte er nachdenken sollen? Selbst wenn er die Jacke nicht vergessen hätte, wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er keine hat.

Er musste raus. Der kleine Mann konnte nicht mehr. Es blieb keine Zeit die Aktion zu überdenken. Er konnte die lauten Stimmen seiner Eltern nicht mehr hören. Wollte nicht sehen, wie seine Mutter weinend vor ihm zusammenbricht. Er wollte nicht ein weiteres Mal sehen, wie seine Mutter quer über das Gesicht geschlagen wird.

Einmal hatte sein Vater seine Mutter geschlagen. Er ließ keine Sekunden vergehen, ehe er sich zu ihr niedergekniet hatte und sich abermals bei seiner Frau entschuldigt hat. Sie hatte ihm verziehen, sie konnte ihn für seine Fehler nicht hassen. Sie hatte versucht, ihn zu hassen, doch ohne Erfolg. Was sie aber wusste, war, dass er ihr nicht wehtun wollte. Niemals mit Absicht. Deshalb geschah es nie wieder mehr und doch hat das kleine Kind Angst und ist in den weiten Wälder in der Nähe des Hauses geflüchtet. So weit weg, dass der Junge sie nicht mehr schreien hören konnte.

Vielleicht waren es nicht nur das Geschreie seiner Eltern, das ihn dazu veranlasst hatte, aus dem geheizten Haus zu rennen. Vielleicht war es auch die Angst geschlagen zu werden. Es wäre nicht das erste Mal. Der Junge kann sich nicht an das erste Mal erinnern, als sein Vater ihn schlug. Lange muss es her gewesen sein. Wie kann man sagen, dass es lange her ist, wenn er doch erst sechs Jahre alt ist? Sein Vater hatte angefangen ihn dieses Jahr zu schlagen und der kleine Junge hätte es nicht gewusst. So viele Schläge sind es schon, dass er nicht mal weiß, wann das Ganze angefangen hat.

Aber es war normal für ihn. Ist es nicht das, was liebende Eltern tun?

Seine winzigen Beine brennen, aber er kann nicht anhalten. Er muss weiter rennen, bis er umfällt und nie wieder mehr aufwacht. Er möchte nicht mehr zurück, so sehr spornt ihn das an. Rennen, rennen, rennen. Das ist seine einzige Aufgabe, wobei der starke Wind ihm zu schaffen macht. Hoffentlich fängt es nicht an zu regnen. Er mag den Regen nicht. Er macht ihm Angst und traurig, weil der Himmel weint und er nichts machen kann, damit das Weinen aufhört.

Wenn er zu seinen Eltern gegangen ist, weil er Angst vor dem Regen hatte, konnte er gleich zurück ins Wohnzimmer gehen. Sie würden ihm nicht helfen, also muss er zurück auf die Couch und versuchen einzuschlafen. Er hat kein einiges Zimmer. Er hätte es nicht verdient, behauptete sein Vater und seine Mutter sah nur schweigend zu Boden.

Was hatte das kleine Kind gemacht, das es kein eigenes Zimmer, mit einer warmen dicken Decke und einem bequemen weichen Bett, verdient hatte? Seine Eltern hatten schließlich auch ein Zimmer und das mit einem Bett! Nur einmal hatte er darinnen geschlafen, als seine Eltern weg waren und ihn alleine gelassen hatten. Gut geschlafen hatte er aber nicht. Er befürchtete, dass seine Eltern zurückkamen, also legte er sich zurück auf die Couch.

So schlimm ist die Couch nicht. Es gibt natürlich was angenehmeres als der kaputte orange Stoff, aber es gibt auch schlimmeres. Seine Mutter war mal so nett gewesen und hatte ihm eine Decke geschenkt. Er hatte sich riesig gefreut! Lange hatte er kein Geschenk bekommen und umso mehr macht es ihn fröhlich, dass es etwas ist, das er wirklich brauchte. Er fror im Winter ungemein, ohne eine Decke. Aber mit dem blauen Stück Decke wurden seine Wintertage wärmer, als sie jemals waren.

MaliciousWo Geschichten leben. Entdecke jetzt