Kapitel 5 | Yumi
- Die Engel und das Licht -
Gabriel hatte Uriel von dem dunklen Meer erzählt, das ich durch meine Handbewegung in den Wolken hatte erscheinen lassen, und er schien genauso entsetzt wie Gabriel.
»Das ist unmöglich! Engel sind das Licht! Die Dunkelheit dürfte sie nicht finden können! Vor allem nicht hier, an diesem heiligen Ort!«, hörte ich Uriel laut an Gabriels Worten zweifeln. Ich wusste nicht, was es bedeutete, dass Engel das Licht waren. Aber ich verstand, dass es nicht gut war, dass mich das dunkle Meer gefunden hatte. »Bist du dir ganz sicher!?«
Gabriel nickte ernst, und als Uriel mich bei der Hand nahm und mich mit einem seltsam mitleidigen Blick anblickte, überkam mich ein ausgesprochen ungutes Gefühl.
»Yumi. Wir müssen die Pläne für deine Ausbildung abermals ändern«, sagte er langsam. Hatte ich mich etwa um die Chance gebracht, ein vollwertiger Engel zu werden? Die Tränen kamen hervor, obwohl ich nicht genau begriff, was sie eigentlich damit ausdrücken wollten. Ich spürte nur, wie Gabriel mich in seine Arme zog und mich zu beruhigen versuchte.
»Ich werde ihr das später erklären. Bitte bereite alles für ihre Reise vor«, hörte ich Gabriels Stimme dumpf sprechen.
***
Er hatte mich am Handgelenk genommen und den himmlischen Pavillon verlassen. Auch Michael war anwesend gewesen und ich hatte seinen missbilligenden Blick genau gespürt. Irgendetwas schien ihm nicht an mir zu gefallen. Ich fragte mich, ob Engel in der Lage waren, zu hassen - so wie die Menschen.
»Yumi«, nahm Gabriel mein Gesicht in seine Hände und sah mir tief in die Augen. »Es ist sehr wichtig, dass du verstehst, was ich dir jetzt sage.« Ich versuchte zu nicken, doch seine Hände gaben mir keinen Freiraum dafür. »Das Meer der Dunkelheit ist eine gefährliche Macht, die nach dem Leben der Engel trachtet. Du musst dich unbedingt von ihm fernhalten, hast du verstanden?« Wieder wollte ich nicken – ohne Erfolg. »Es wird … nicht gestattet, dass Engel, die mit diesem Meer in Berührung gekommen sind, länger im Himmelreich bleiben«, sagte er und drückte mich in diesem Augenblick fest an seine Brust. Ich spürte, genau in diesem Moment, als er diese Worte zu Ende aussprach, dass mir etwas genommen wurde, und erinnerte mich an dasselbe Gefühl, als ich im dunklen Meer um mein Leben gekämpft hatte.
Jetzt schien er meine Tränen wahrzunehmen, die meine Wangen hinunter liefen. Ich hatte Angst. »Ich werde dich nicht alleine lassen, das verspreche ich dir. Ich achte auf dich und beschütze dich, auch wenn du eine Zeit auf der Erde sein wirst. Du musst dich vom Einfluss dieser Finsternis befreien. Stehe den Menschen bei. Sei der Engel, der du bist. Sobald du das schaffst, wirst du dir ganz schnell einen neuen Pfad erarbeiten und den Himmel erneut betreten dürfen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Ich verstand nur die Hälfte von dem, was er mir versuchte, zu sagen. Doch dann kam mir ein sehr merkwürdiger Gedanke in den Kopf und ich musste Gabriel einfach danach fragen. Ich musste wissen, ob es wahr war. »B-Bin ich krank, Gabriel? Ist das dunkle Meer … eine Krankheit der Engel?«
Da war er wieder. Dieser traurige Blick des Erzengels, den ich schon öfter bemerkt hatte und ich erkannte, dass es der Grund sein musste, weshalb so wenig Engel noch im Himmereichl weilten.
»Du musst zurückkehren, versprich es mir«, sagte er und drückte meine Hände fest in seinen. Ich merkte, wie sehr er darunter litt. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, wieso es ihn so berührte, dass ich den Himmel verlassen sollte. »Ich … werde auf dich warten«, sprach er, und als ich ihn fragen wollte, wie lange es wohl dauerte, bis ich die Prüfungen auf der Erde bestehen und das Himmelreich wieder betreten dürfte, küsste er mich sanft auf die Stirn. Und ich spürte, dass es mir niemals erlaubt sein würde, diese Frage auszusprechen.
Als ich ihn daraufhin hilflos ansah, griff er in seine Tasche und holte ein Amulett hervor, das er mir langsam um den Hals legte. Ich nahm den Anhänger auf und sah mir das purpurfarbene Pentagramm an, das in seiner Mitte einen gleichfarbigen, runden Kristall besaß. »Es wird dich beschützen. Und nun … steig hinab auf die Erde und beglücke die Menschen, Yumi.«
***
Es war die Zeit der Morgendämmerung, als ich vom Himmel hinabstieg. Ich hatte lange aus dem Himmelreich auf New Austin geschaut und wollte sehen, wie die Menschen in dieser Stadt wirklich lebten und ihnen beistehen. Ich bemerkte ein Gotteshaus mit großen Türmen und Glocken und erinnerte mich daran, dass man es in der Menschenwelt eine Kirche nannte.
Ich entschied mich, dort meinen ersten Tag auf Erden zu verbringen, um zu überprüfen, wie die Menschenwesen zu Gott standen, und erschien noch in das Licht des Himmels getaucht auf dem Altar. Niemand war in der Nähe. Das Gotteshaus war völlig leer, wirkte kalt und düster und doch spürte ich die Anwesenheit eines Menschen. Ich ließ meine Flügel verschwinden und versuchte, mein Leuchten zu verstecken, um wie eine gewöhnliche Menschenfrau zu wirken. Ich wollte gerade etwas durch die Kirche rufen, als ich ein unbekanntes, äußerst seltsames Geräusch hörte. Es durchbrach die Stille des Gotteshauses. Ich folgte dem Klang und fand unter der Statue einer heiligen Frau eine Nische, in der sich ein junger Mann zur Ruhe gelegt hatte. Sein Zylinder lag neben ihm und ich bemerkte, dass dieses erstaunliche Brummen von ihm kam. Er schien tief zu schlafen. Ich hockte mich interessiert über ihn und legte meine Hand auf seine Stirn, um zu sehen, was ein Mensch wohl träumen mochte.

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Auch Engel dürfen träumen
RomanceYumi erwacht im Himmel. Doch ein dunkles Meer versucht, sie zu verschlingen und in unergründliche Tiefen zu ziehen. Auf Geheiß von Erzengel Gabriel muss Yumi ihre Ausbildung abbrechen, auf die Erde zurückkehren und fortan unter den Menschen leben. V...