Der Hilferuf

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Kapitel 9 | Yumi

- Der Hilferuf -

Die Vögel zwitscherten fröhlich ihre Frühlingslieder, als ich langsam aus dem Schlaf erwachte. Ich hatte im Himmelreich nie so lange und fest geschlafen, wie ich es hier auf der Erde in diesem Park getan hatte. Ich fragte mich, woran das lag. Ich fühlte mich entspannt und spürte eine Lebensfreude und Energie in mir, die ich beinahe vergessen hatte.
Ein brauner Trenchcoat hatte mich zugedeckt und ich schaute mich um. Es war sein Mantel. Ich musste nicht lange suchen. Er hatte sich unter einen Baum in den Schatten zurückgezogen, war aber nicht weit von mir entfernt und hatte mich stets im Auge. Er schien zu schlafen. Als ich jedoch näher an ihn heranging und mich neben ihn kniete, bemerkte ich, dass es anders war als das letzte Mal. Ich legte prüfend meine Finger an seine Stirn. Als ich festgestellt hatte, dass er nicht träumte, nahm ich erleichtert meine Hand zurück und sah ihn an.
Was mir an ihm zuerst auffiel, waren seine verschränkten Arme. Ich sah seine langen, roten Fingernägel hervorblitzen und wunderte mich, wieso er sie angemalt hatte. Neben seinem braunen Trenchcoat, den ich um die Schultern gelegt hatte, trug er ein graues T-Shirt mit weitem Ausschnitt. Allerdings wirkte es eher, als wäre er dort irgendwo hängengeblieben und sein Shirt gerissen, als dass es so gehörte. Fünf kleine Knöpfe säumten den tiefen Riss, der bis zu seinem Brustbein reichte. Dazu eine dunkle Jeans mit vielen Taschen. Aber was mich an ihm unglaublich faszinierte, waren seine Haare. Sie schienen mehr als eine Farbe zu besitzen und je nach Sonneneinstrahlung mal braun und mal schwarz zu schimmern. Sie wirkten ebenso besonders wie seine gesprenkelten Augen, die sich mir bei unserer ersten Begegnung ins Gedächtnis gebrannt hatten. Keiner der Engel besaß solch eine grüne Iris.
Plötzlich hörte ich ein seltsames Geräusch, als schlügen Metallstangen aufeinander, und wandte mich in die vermeintliche Richtung um. Als ich auch noch Schreie wahrnahm, rannte ich los. Ich konnte nicht anders. Selbst wenn ich mit ihm zusammen nach seinem Zylinder suchen wollte, ihm mein Wort gegeben hatte. Ich musste sehen, was da vor sich ging. Schließlich war das meine Aufgabe als Engel auf Erden. Vielleicht brauchte jemand meine Hilfe!
Als ich um die Ecke bog, sah ich zwei Männer mit Baseballschlägern. Unter ihnen am Boden eine leichtbekleidete Frau. Sie schienen sie mehrmals brutal geschlagen zu haben und sie regte sich nicht mehr. Trotzdem machten sie keine Anstalten, ihre Schläger sinken zu lassen.
»Sofort aufhören!«, rief ich, um ihre Aufmerksamkeit von der armen Menschenfrau auf mich zu lenken. »Es ist nicht Gottes Wille, dass ihr andere Menschen verletzt. Lasst Gnade walten und beichtet eure Taten bei Gott.«
Sie machten einen Schritt auf mich zu und so einen von der Frau weg. Es funktionierte. Sie ließen von ihr ab. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, dass sie sich sofort auf mich stürzten und mir mit dem Baseballschläger einen kräftigen Schlag in den Unterleib verpassten.
Ich hätte niemals gedacht, dass das so weh tun könnte, und fiel zu Boden. Die Menschen hörten einfach nicht auf die Worte, die ich ihnen zu sagen hatte, wo es doch Gottes Wille war, den ich verkündete. Und ich begriff nicht, warum. Hatte ich es falsch gesagt? Hatten sie mich nicht verstanden?
»Nein … das solltet ihr nicht tun«, versuchte ich ächzend, ihnen noch immer ins Gewissen zu reden. »D-Das ist nicht Gottes Wille. Ihr müsst euch der Versuchung widersetzen. Es ist … nicht zu spät dafür.«
Sie grinsten stumm, packten mich am Hals und schnürten mir die Kehle zu. Ich fühlte, wie mich die Kraft verließ und die Tränen in mir hochstiegen. Die Männer rissen mir das Amulett herunter, das Gabriel mir gegeben hatte. Ich spürte, wie die Schmerzen sich augenblicklich vervielfältigten. Und als sie mir noch einen Schlag mit dem Baseballschläger überzogen, wurde alles schwarz.

Es wurde kalt um mich herum. Ein frostiger Wind zog mir die Schenkel hoch, und ehe ich verstand, wo ich mich befand, fühlte ich das eisige Wasser, das mir die Beine hochschlug. Ich riss verängstigt die Augen auf und musste entsetzt feststellen, dass mich das dunkle Meer erneut zu sich geholt hatte.
Ich wollte um Hilfe rufen, aber meine Stimme versagte. Ich mochte loslaufen und einen Ausgang suchen, doch meine Füße bewegten sich nicht. Das Eiswasser schlug immer höher an mir hoch, wie an einem Felsen in der Brandung, und ich spürte das brennende Salz in meinen Augen. Würde ich diesmal hier ertrinken? Nie wieder zurückfinden in das Himmelreich oder auf die Erde?
Plötzlich erinnerte ich mich an diese faszinierenden, grünen Sprenkler. Ich hatte ihm versprochen, seinen Zylinder zu suchen, der ihm so wichtig war. Und ich musste ihm helfen, eine Unterkunft in der Nähe der Kirche zu finden. Gabriel würde noch viele Aufträge für mich in der Menschenwelt haben. Ich durfte mich jetzt nicht von diesem Meer einschüchtern lassen!
Ich versuchte vergeblich, meine Flügel auszustrecken, irgendeine Kraft zu mobilisieren. Es half alles nichts. Ich dachte an Gabriel und die anderen Erzengel. Sie hatten mehrfach davor gewarnt, dass ich zu sehr mit den Menschen verbunden war. Ich verstand immer noch nicht, was das bedeuten sollte. Doch ich hatte das Gefühl, dass das einer der Gründe war, warum mich das dunkle Meer so leicht fand und zu sich rief. Ich spürte, wie die Tränen überliefen, und ahnte, dass die Erzengel mir auch nicht helfen konnten. Ich wusste nicht, wieso, aber ich musste ihn rufen. Ich war mir sicher, dass er mir beistehen würde. Ich hatte gesehen, was er in seinem Traum vollbracht hatte, selbst wenn es nur ein Hirngespinst gewesen war. Wenn er es fertigbrachte, ein Höllenungeheuer zu besiegen, mochte er vielleicht die Stärke besitzen, das dunkle Meer zu vertreiben und mich hier rauszuholen. Ich nahm alle Kraft zusammen und schrie: »Hilf mir, Taen!!«
Danach griff das dunkle Meer ein letztes Mal an und riss mich in die Tiefe. Wieder verspürte ich das Gefühl, dass mir etwas Wichtiges genommen wurde. Und als ich gänzlich in der Finsternis versank, war es vorbei.

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt