Eine Nacht am See

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Kapitel 8 | Taen

- Eine Nacht am See -

Was war sie nur für ein überaus merkwürdiges Wesen? Und warum wollte sie mich nur im Haus Gottes festhalten? Ich hatte deutlich gespürt, wie meine Kraft gefährlich nachließ und mir wurde schlecht. Verdammt, jetzt bloß nicht auf den letzten Metern nachlassen, hatte ich mir gedacht. Mein Körper war komplett durcheinander, alles drehte sich. Ich konnte gerade so verhindern, dass sich meine Schwingen zeigten, da hatte ich bereits die ersten Federn in dieser Welt verloren. Das Portal kam mir unendlich schwer vor und nur mit Schwung hatte ich es überhaupt durch das Tor ins Freie geschafft. Ich erinnerte mich nur noch an das reine Sonnenlicht eines viel zu wolkenlosen Tages auf dieser Erde.
Jetzt fühlte ich mich großartig. Seit ich mich in der Menschenwelt befand, hatte ich mich nie so gut gefühlt. Ich spürte einen sanften Lufthauch auf meinem Gesicht. Offensichtlich war ich im Freien. Die Sonne merkte ich kaum und das allein steigerte meine Laune ungemein. Mein Kopf ruhte auf etwas Warmen und jemand berührte meine Stirn. Ich entschied mich erst einmal dafür, so zu tun, als würde ich noch schlafen.
Was war in der Kirche geschehen? Ich hatte geschlafen und von meiner Heimat geträumt. Oder war es gar kein richtiger Traum gewesen? Es kam mir doch alles viel zu real vor. Und als ich aufgewacht war, musste etwas mit mir passiert sein. Da gab es eine Lücke in meinem Gedächtnis. Außerdem war da dieses Wesen, diese Menschenfrau. Zumindest sah sie so aus. Irgendwie war sie nicht so wie die anderen Menschen. Ich wusste nicht genau, was es war, aber vielleicht kam ich ja später dahinter. Jedenfalls war in der Kirche etwas mit mir geschehen. Weder der unsägliche Schmerz noch die Schwäche hätten Überhand gewinnen dürfen. Es war, als hätte mich ein Gläubiger oder ein höheres Wesen entdeckt. Dabei sehen sie uns unter den Menschen nicht. Irgendwas hatte mich also auffliegen lassen. Das gab mir ein weiteres Rätsel auf.
Ich öffnete die Augen. Über mir erblickte ich die Frau aus der Kirche. Langes Haar fiel ihr in Locken von den Schultern. Sie trug ein weißes Kleid und ich konnte nicht verhindern, sie anzustarren, da sie offenbar nichts darunter anhatte. Ihre Brustwarzen zeichneten sich durch den dünnen Stoff ab. Ich erinnerte mich an ihren Namen, Yumi, und fühlte einen unergründlichen Frieden in meinem Herzen, als ich mir vorstellte, ihn auszusprechen. »Taen Rawen«, stellte ich mich fast unbewusst vor. Sie lächelte mich an und sagte: »Da bist du ja wieder. Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Jetzt bemerkte ich erst, dass ich sie noch immer anstarrte, konnte jedoch nicht anders und wurde rot im Gesicht.
»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« 
Ich musste mich kurz besinnen und setzte mich auf. »Mir ging es nie besser, danke. Warum sind wir hier? Waren wir nicht in einer Kirche?«
»Du sagtest doch, du dürftest nicht dort sein? Ich habe dich hier hergebracht, weil es dir nicht gut zu gehen schien. War das falsch?« Sie sah mich mit unschuldigen Augen an.
»Nein, das war richtig. Was ist eigentlich passiert? Bevor du da warst, ging es mir da prima«, fragte ich anklagend. Sie sah mich verwundert an.
»Wie meinst du das? Als ich kam, hast du unter der Statue geschlafen. Du hast merkwürdige Geräusche gemacht und dann plötzlich geschrien. Ich dachte, du hättest einen Albtraum. Den Rest kennst du ja.«
»Mehr oder weniger, ja. Und ob man das einen Albtraum nennen kann, weiß ich nicht, es war … mehr als das.«
»Was meinst du mit - mehr als das?«
»Vergiss einfach, was ich gesagt habe«, meinte ich schnell. Ich musste aufpassen, was ich aussprach. Ich wurde nachlässig, geradezu unvorsichtig. »Ich fühle mich aber wieder sehr gut. Nur - wo ist mein Zylinder? Es zieht an meinem Kopf.« Sie schaute mich fragend an, als erinnere sie sich nicht daran, dass ich einen Zylinder gehabt hätte. »Er wird doch nicht noch etwa in der ... !? Verdammte Schei…!« Zurückhalten, sagte ich mir, irgendwie bekommst du den schon zurück. Die Frage war nur: Wo war ich und wo war dieser verdammte Knierutscherpalast? »Wir müssen zur Kirche. Mir liegt sehr viel an dem Zylinder. Er ist …«, ich zögerte, »… ein altes Erbstück meines Vaters.«
»Kein Problem«, flüsterte sie und ich konnte in ihrer Stimme den Haken der ganzen Sache deutlich heraushören, ehe sie ihn ausgesprochen hatte. »Aber es wird dunkel, siehst du?« Sie wies auf die letzten Sonnenstrahlen, die noch am Horizont erkennbar waren. »Wenn es dunkel ist, solltest du dich nicht mehr auf den Weg machen. Morgen früh ist der Priester sicher da und lässt dich in die Kirche.« 
Sie lächelte zuversichtlich. Ihr Lächeln hatte etwas Beruhigendes. »Wo kommst du eigentlich her? Du sagtest, du wärst neu in der Stadt und wolltest dir zuerst das Gotteshaus anschauen. Das ist sehr ungewöhnlich für einen Mensch… äh Fremden.«
Sie sah mich erneut mit diesen verdutzten Augen an. »Was ist daran so ungewöhnlich? Ich lebe da, wo Gott ist. Da muss ich mir doch ansehen, wie sein Haus in dieser Stadt aussieht.«
»Du bist eine Nonne!? Was für eine sch… schöne Berufung.« So ein Mist, sie war also wirklich ein Speichellecker Gottes. Trotzdem war irgendwas an ihr, was mich noch immer stutzig machte. Und das lag nicht nur daran, dass ich nie eine Ordensschwester in weißen Kleidern getroffen hatte. »Wie alt bist du und von wo kommst du denn?« 
Sie schien zu überlegen und legte dabei nachdenklich ihre Hand an den Kopf. Schließlich kicherte sie leise und sagte: »Das weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube, um die zwanzig, aber sicher bin ich mir nicht. Weißt du, ich erinnere mich nicht an meine Kindheit und diese Sachen. Ich hatte einen Unfall. Was ist mit dir? Du siehst selbst recht jung aus. Gehst du zur Schule?«
»Ein Unfall, soso.« Na klar, wer kauft ihr denn sowas bitte ab!?: »Ich bin vierundzwanzig und geh schon lange nicht mehr zur Schule. Ich trampe zurzeit durch das Land, da meine Familie mich rausgeworfen hat.«
»Rausgeworfen? Wieso? Willst du dann nicht vielleicht hier bleiben? In dieser Stadt? Du könntest auch im Haus Gottes wohnen«, sagte sie, schien sich jedoch an etwas zu erinnern und meinte: »Oder besser nicht direkt dort. Aber wir finden was in der Nähe für dich. Ganz bestimmt. Ich werde dir helfen, wenn du möchtest.« 
»Ich habe zu vielen Leuten mehr als genug Gründe geliefert, mich zu hassen, da war es ihnen irgendwann einfach zu viel. Und in der Kirche würde ich eh nicht wohnen wollen. Aber in der Nähe …« Ich überlegte. Halte dir deine Freunde nah, deine Feinde noch näher. »Ja, wieso nicht. Ich habe bisher keine Möglichkeit zum Übernachten. Hohe Ansprüche besitze ich auch nicht.« Ich rückte etwas dichter an sie heran. Taktikwechsel! »Wie kommt es eigentlich, dass ein so hübsches Mädchen wie du alleine hier in der Stadt ist? Ich werfe gerne ein Auge auf dich, falls du in Schwierigkeiten geraten solltest.« Und ich hatte das starke Gefühl, dass sie geradezu ein Magnet für diverse Schwierigkeiten war. Es konnte nicht klug sein, mir diese Bürde aufzuladen. Dennoch spürte ich einen unnachgiebigen Drang, genau das zu tun.
»Danke«, sagte sie sichtlich überrascht. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir dafür danken soll. Ich kenne noch nicht viele Menschen in dieser Stadt. Ich hoffe aber, dass ich zurechtkommen werde.« Es hörte sich an, als müsste sie sich selbst von ihren Worten überzeugen. »Es ist spät. Wenn wir morgen früh deinen Zylinder suchen wollen, sollten wir jetzt schlafen, oder meinst du nicht?« Sie wartete nicht einmal auf meine Antwort, sondern ließ sich nach hinten fallen und blickte hoch in den Himmel. »Ich hoffe, du bist zufrieden mit mir«, murmelte sie den Sternen zu, schloss die Augen und war von einer Sekunde auf die andere in ihren Träumen verschwunden.
Ich selber war nicht müde, hatte ich doch erst ein paar Stunden Schlaf hinter mir und hielt so neben ihr Wache. Ich vergegenwärtigte mir den Tag und wollte ausprobieren, was mir schon zuvor aufgefallen war. Sie zitterte leicht, wohl wegen der kalten Nachtluft. Auch mir wurde es etwas zu frisch, aber ich fand nichts, um uns zuzudecken. Also murmelte ich leise die Worte des Feuers und wob einen Ring um uns. Kurz darauf wurde es angenehm warm und sie beruhigte sich. Ich konnte ein verspieltes Lächeln erkennen, ganz so, als sei sie dankbar für meinen Zauber.
Ich zog meinen Mantel aus, legte ihn über sie und begab mich auf die Suche nach ein paar kleinen Tieren, immerhin war meine letzte Mahlzeit schon eine halbe Ewigkeit her. Gesättigt kehrte ich kurze Zeit später zurück und setzte mich meditierend neben sie. So einen intensiven Traum wollte ich nicht noch einmal erleben.
Die Sterne waren wirklich wunderschön diese Nacht. So etwas bekam ein Teufel sonst nie zu sehen - einen klaren Blick in das Reich der Engel.

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt