Der Kuss

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Kapitel 12 | Taen

- Der Kuss -

Bei dem Namen Gabriel sträubten sich mir die Nackenhaare. Eigentlich war ich nicht überrascht, dass sie einen ihrer Namen ausrief. Mir war klar, dass sie kein normaler Mensch war, aber dass es noch welche gab, die wirklich einen festen Glauben besaßen, hatte ich nicht erwartet.
Sie verlor offenbar das Bewusstsein und fiel mir direkt in die Arme. So federleicht und zierlich, wie sie war, wusste ich nicht recht, wie ich sie nun halten sollte, ohne ihr wehzutun. Der Schmerz jedoch, der sie eben zu quälen schien, war mit einem Mal wie weggeblasen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Ich ging näher an sie heran und schwebte dicht vor ihrem Gesicht.
»Hey, Yumi, wach auf. Du kannst mir doch nicht andauernd umkippen«, sagte ich und stupste sie mit meiner Nase an.
»Gabriel?«, fragte sie verworren lächelnd und legte mir ihre Finger auf die Wange.
»Ich bin es - Taen!« Es schien fast so, als würde sie den Erzengel persönlich kennen und sich so an ihn schmiegen. Kein schöner Gedanke. Ich nahm ihre Hand in die meine und drückte sie leicht aber bestimmt. »Falls du den Erzengel meinst, das bin ich ganz sicher nicht. Dafür kann ich dir wirklich beistehen und mich musst du nicht immer vergeblich um Hilfe anrufen.« Einem seltsamen Reflex folgend, gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn. Für Menschen war das ein ziemlich normales Verhalten und endlich mal ein Teil des Menschseins, der mir gefiel.
»Taen? Aus dem Gotteshaus?« Ihre Augen glänzten. Spürbar erleichtert lehnte sie sich an mich und murmelte meinen Namen.
»Ich bin bei dir, mach dir keine Sorgen.« Ich schielte zu ihrem Kleid herüber, es war noch nass. Also hatte ich Zeit. »Wenn du deine Schmerzen loswerden willst, wüsste ich da etwas«, sagte ich und beugte mich über sie. Ich wob einen Zauber in meinem Gedanken und drückte ihn ihr sachte mit einem Kuss auf den Mund.
Sie schien im ersten Moment überrascht, entspannte sich jedoch kurz darauf. Der Spruch wirkte. Eine einzelne Träne der Erleichterung bahnte sich ihren Weg und tropfte hinab auf meinen Arm. Ein warmes Kribbeln erfasste meinen Arm und ich musste Yumi absetzten, da ich sie mit dem Arm nicht mehr halten konnte, als hätte ich mit dieser flüchtigen Berührung all meine Kraft verloren. Und es machte mir nicht das Geringste aus. Ich beugte mich stattdessen über sie und schaute ihr ins Gesicht: »Geht es dir jetzt besser?«
Die Röte stieg ihr in die Wangen und sie drehte sich verlegen zur Seite. »Wieso ... hast du das gemacht? Ich meine ... du hättest mich doch auch ... auf die Wange küssen können?« 
Ich grinste schelmisch: »Dann hätte es nicht so gut gewirkt.«
»I-Ich weiß nicht.« 
»Tut mir leid, wenn es dir unangenehm war.« Sie schaute mir scheu in die Augen, so als wolle sie etwas sagen, wusste aber nicht, wie.
»Hey! Ihr da! Was macht ihr da? Müsstet ihr nicht in der Schule sein!?« Ein Mensch war am See erschienen und meinte offensichtlich uns beide. Ich wandte mich von Yumi ab. »Lass mich nur machen, bleib am besten hier liegen.«
Ich sprang auf und lief zu dem Mann hinüber. Er trug merkwürdig einfarbige, blaue Kleidung und war bewaffnet. Einer der Menschen, die für Ordnung sorgen, dachte ich mir. Ich mochte ihn auf Anhieb nicht.
»Warum seid ihr beide nicht in der Schule?«, fragte er etwas gereizter, als ich vor ihm stand.
»Warum sollten wir?« Ich wusste nicht, was eine Schule war, aber als Menschen sollten wir uns zu dieser Zeit wohl dort aufhalten. »Wer sagt denn, dass wir dahin müssen?« 
»Was!? Willst du mich verarschen!? Soll ich euch vielleicht persönlich zur Schule fahren? Was glaubst du, was eure Eltern davon halten? Ihr werdet eine Strafe bekommen, so was steht später in eurer Akte.«
Ich hörte dem erregten Brabbeln des Menschen nicht weiter zu. Ich hatte ja nicht mal die Hälfte verstanden. »Komm zum Punkt«, unterbrach ich ihn. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« 
Das gefiel ihm auch nicht. Sein Kopf färbte sich Zornesrot, er schien sich aufzuplustern und reckte seine Brust hervor. Eine Drohgebärde, aber nicht mit mir. Wenn der Mensch Ärger suchte, dann hatte er sich heute den Falschen ausgesucht. Ich konzentrierte mich kurz, um meine Kraft richtig abzuschätzen. Der Schlag erwischte ihn glatt in der Brust. Ich spürte ein leises Knacken, sein Körper beugte sich schlaff vornüber und fiel wie eine Puppe zu Boden.
Schwächlicher Mensch, dachte ich mir, nach so einem Schlag schon das Bewusstsein zu verlieren. Gut, dass ich ihn extra schwach geschlagen hatte, sonst würde er mehr Probleme haben als eine gebrochene Rippe.
»Nein, was tust du denn da!?«, kam Yumi schreiend angerannt und kniete sich neben den Mann. Mit ihren kleinen Händen tastete sie langsam seinen Körper ab. Sie schien auch seine Atmung und Puls zu überprüfen. Komisches Verhalten. Ich dachte immer, Menschen kümmern sich nicht umeinander. »Wie kannst du ihn schlagen? Was hat er getan?«, fragte sie anklagend, während sie ihn weiter abtastete.
»Er hat eine Drohgebärde gemacht. Da, wo ich herkomme, ist das ein Zeichen für einen Kampf. Außerdem schien er uns irgendwo hinbringen zu wollen, ohne sich darum zu kümmern, ob wir das wollen. Ich lass mich nicht gerne herum schubsen. Und ich habe ihn ja nur ganz leicht geschubst, ihm ist ja nichts passiert. Er schläft nur.«
Sie drehte ihr Gesicht zu mir und versuchte, mich böse anzuschauen. Ich spielte mit und gab mich betroffen. In der Hölle würde man über so ein niedliches Augenfunkeln lachen. 
»Du wirst ihn tragen. Wir können ihn nicht hierlassen. Wir werden ihn mit zum Gotteshaus nehmen«, sagte sie mir. So was Dummes aber auch. Ich tat ihr den Gefallen und hob ihn mit Leichtigkeit auf meine Schultern. Wenn ich ihn nicht mitnehmen würde, hätte ich bestimmt Probleme, sie dazuzubringen, mir den Weg zu zeigen. Also hieß es, in den sauren Apfel zu beißen.

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt