Nachdem ich der Frau durch zahlreiche Treppenhäuser und große Hallen gefolgt war, hatte sie in ihrem Büro meine Daten aufgenommen und führte mich jetzt zu meinem Zimmer.
Ein nervöses Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus, denn dort würde auch meine Mitbewohnerin auf mich warten. Durch die vielen Umzüge und die die Verschlossenheit meiner Familie war es mir nie einfach gefallen, Freundschaften zu schließen. Tatsächlich hatte ich meine letzte richtige Freundin kennengelernt als wir für elf Monate in Peru lebten, da meine Eltern dort an einer Ausgrabung mitarbeiteten. Ich war damals sieben.
John und Ellen McAllister, das waren meine Eltern, das berühmte Forscherpaar aus Kalifornien. Sie hatten sich während des Studiums bei einer Ausgrabung in Mexico kennengelernt und gemeinsam eine Geheimschrift entziffert, die sie zur Entdeckung vieler weiterer Artefakte in ganz Südamerika geführt hatte.
Während Fachzeitschriften danach über ihren Erfolg als Forscher berichteten, waren die Massenmedien hauptsächlich an ihrer Liebesgeschichte interessiert. Und das zu Recht! Meine Eltern waren fantastisch zusammen gewesen. Sie waren beide extrem intelligent und die ruhige Art meines Vaters wurde perfekt durch meine kämpferische Mutter ergänzt.
In meinem Hals bildete sich ein Kloß, so wie immer wenn ich über meine Eltern nachdachte. Ich versuchte das Bild von ihren Gesichter auf den Fernsehbildschirmen aus meinen Gedanken zu verbannen, doch die Stimme der Moderatorin hallte immer wieder durch meinen Kopf.
„Berühmtes US-amerikanisches Forscherpaar seit 72 Stunden verschwunden. Bis jetzt noch keine Hinweise auf aktuellen Standort."
Nie hätte ich gedacht, dass diese Schlagzeile nur der Anfang sein würde.
Ich versuchte mich auf meine Schritte zu konzentrieren, um die Trauer loszuwerden. Die Frau, sie hatte sich als Mrs. Woodward vorgestellt, trug hohe Schuhe und das Klacken ihrer Schritte hallte durch die große Eingangshalle, die wir jetzt zum dritten Mal durchquerten. Erst jetzt sah ich mich richtig in der Halle um.
In der Mitte des Raums führte eine große Steintreppe zu den Klassenräumen und der Cafeteria. Kleinere Wendeltreppen verbanden sie mit dem Rest der Schule. Durch die Buntglasfenster fiel ein warmes Licht und an der Wand hing ein riesiges Gemälde, das das Äußere der Schule zeigte. Ich fühlte mich fast wie in einem der alten Geschichtsbücher, die in den Regalen meiner Eltern gestanden hatten.
Mrs. Woodward führte mich durch einen langen Flur. Ich versuchte ihren schnellen Schritten zu folgen, doch mein Blick blieb an einer kleinen Nische in der Steinwand hängen. Im Schatten versteckte sich ein dunkelhaariger Junge, der ein Mädchen gegen die Wand drückte und leidenschaftlich küsste.
Er hob seinen Blick und schaute direkt in meine Augen. Die nächsten Sekunden vergangen wie in Zeitlupe, doch ohne weiter auf mich einzugehen, wendete er sich wieder dem Mädchen zu und küsste sie noch härter als zuvor. Ich merkte, wie das Blut in meine Wangen schoss und wendete mich schnell ab.
Mrs. Woodward war am Ende des Gangs stehengeblieben und klopfte ungeduldig an eine Tür. Als sie sich nach ein paar Augenblicken öffnete stand vor uns ein kleines, zierliches Mädchen mit langen blonden Haaren und unzähligen Sommersprossen.
„Sophia, das ist Brooke, ich habe dir ja schon von ihr erzählt."
Mrs. Woodward drehte sich zu mir und sah mich erwartungsvoll an. Ich wusste nicht ganz, was sie von mir wollte, doch ich streckte dem Mädchen die Hand aus und stammelte ein leises „Hi."
Sophia schüttelte zögerlich meine Hand. Sie hatte einen festeren Händedruck als ich es bei ihrer schmalen Statur erwartet hatte.
Die Lehrerin zog eine Taschenuhr aus ihrer Brusttasche (wie altmodisch!) und klackerte ungeduldig mit ihren Absätzen auf dem Boden.
„Ich denke, meine Arbeit ist hier getan. Ihr kommt zurecht."
Es war mehr wie ein Befehl als eine Frage formuliert und mit diesem Satz kehrte sie um und lief zügig den Flur hinunter.
Sophia lächelte mich an und führte mich ins Zimmer.
„Keine Sorge, die hat es immer so eilig", sagte sie mit einem Lachen.
„Oh ja, solche Lehrer gibt es überall", erwiderte ich und legte meinen Rucksack neben dem freien Bett ab.
„Du bist vorher in den USA zur Schule gegangen oder?" fragte Sophia.
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und seufzte.
„In den USA, davor in Frankreich, davor in Papua-Neuguinea, davor in Mexico und immer so weiter."
Ich hätte noch stundenlang über meine früheren Wohnorte sprechen können.
Sophia starrte mich ungläubig an.
„Das ist ja so cool! Du musst mir unbedingt alles erzählen."
„Naja, so cool war das eigentlich garnicht. Was wirklich cool ist, ist diese Schule. Ich fühle mich wie eine Gräfin aus der viktorianischen Ära", lachte ich.
„Und du hast noch nicht mal alles hier gesehen. Komm, ich zeige dir das Gebäude und dann können wir direkt zum Abendessen gehen."
Sie nahm meine Hand und zog mich aus dem Zimmer.
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Thornwood Secrets
Teen FictionAls Brooke McAllister an das Thornwood Internat im Norden von England wechselt, merkt sie schnell, dass die beliebte Freundesgruppe rund um den gutaussehenden Ash sehr viel mehr verheimlicht als sie bei einer Runde "Wahrheit oder Pflicht" herausfind...