Kapitel 1

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Mit einem tiefen Seufzen erhob er sich aus dem brandneuen Stuhl und schob diesen dabei zurück. Seine Finger mit den abgekauten Nägeln krallten sich in die abgewetzte Holzplatte des Tischs, auf dem seine Bildschirme und die Boxen standen, während er den Rücken durchdrückte. Mit einem lauten Knacken rückten sich die verschobenen Wirbel wieder richtig hin, die verkrampften Muskeln in seinen Schultern dehnten sich allmählich. Blinzelnd versuchte er seine trockenen Augen zu befeuchten, während er seinen Rechner ausschaltete und sich in dem nun dunklen Raum umsah. Sein Gehirn fühlte sich nach dem stundenlangen auf den Bildschirm Starren wie eine vertrocknete Pflaume an. Er brauchte dringend ein Glas Wasser und ein bisschen frische Luft.

Mit wackeligen Beinen ging er zu dem großen Fenster und öffnete es. Während die kühle Nachtluft in das stickige Zimmer strömte, stellte er fest, dass Wassertropfen von außen an der Scheibe hafteten. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass es geregnet hatte. Seine Augen schlossen sich wie von selbst, als er die frische Luft tief in seine Lungen sog und sich die Schläfen massierte. Ein heiseres Stöhnen kam aus seiner trockenen Kehle, er leckte sich über die Lippen, um sie zu befeuchten.

Der Weg in die Küche brauchte eine gefühlte Ewigkeit und obwohl er schon seit sechs Jahren in dieser Wohnung lebte, stieß er sich in der Dunkelheit die Hüfte am Türrahmen. "Scheiße." Es war kein Fluch, nur eine Feststellung. Kurz überlegte er, ob er das Licht anmachen sollte, doch die Gedanken an sein Spiegelbild in den großen Fenstern hielten ihn davon ab. Er benutzte den Sodastream, der verstaubt auf dem Tresen stand, nicht. Stattdessen nahm er eines der nicht ganz so dreckigen Gläser aus dem Spülbecken und füllte es mit frischem Wasser. Er kippte es mit einem Zug runter und füllte das Glas gleich noch einmal, um es wieder zu leeren und dann zurück auf den Stapel zu stellen. Er musste mal wieder aufräumen, aber das hatte Zeit. Jetzt brauchte er die kühle Nachtluft, um seinen Körper zu regenerieren.

Mit einer geübten Bewegung griff er die Maske, während er sich die Schuhe anzog. Die Schleifen waren bereits, oder eher noch immer gebunden, er musste sie nicht einmal fest ziehen. Mit der einen Hand griff er sein Handy, mit der anderen den Schlüsselbund, beides versenkte er in der Bauchtasche seines Hoodies. Die Tür fiel hinter ihm mit einem lauten Krachen ins Schloss, die Bewegungsmelder ließen das Treppenhaus nach seinem ersten Schritt hell erstrahlen. Seine Knie knackten, als er auf die erste Stufe trat, auf der zweiten knackten seine Knöchel. Auf der dritten Stufe rutschte er in einer Pfütze aus, nur der beherzte Griff zum Treppengeländer rettete ihn vor dem Sturz. "Na zum Glück sind es nur noch 27 Stufen."

"Entschuldigung?" Jemand tippte ihm von hinten auf die Schulter, kaum dass er aus der Haustür raus war. Mit einem misstrauischen Blick drehte er sich um und starrte auf den Hals eines Menschen, der noch größer als er selbst war. "Haben sie vielleicht ein Taschentuch für mich?" Der Mann sah nicht so aus, als würde ihm ein Taschentuch helfen können. Der Fremde hatte zwar Nasenbluten, aber seine Nase sah gebrochen aus und das eine Auge war brutal zugeschwollen. "So wie sie aussehen, brauchen sie kein Taschentuch, sondern einen Arzt." Der Fremde hatte wirre, schwarze Haare und dunkelbraune Augen, von denen eins kaum sichtbar waren. Trotz der Schmerzen, die er haben musste, verzog der Fremde seine Mundwinkel zu einem Lächeln." Stimmt." Die Sporttasche wanderte von der einen Schulter auf die andere. "Haben sie nun ein Taschentuch oder nicht?" er schüttelte irritiert den Kopf, dabei lösten sich einige Strähnen unter der Kapuze und fielen ihm ins Gesicht. Das Grün war schon lange verwaschen, er müsste sie eigentlich neu färben, auch das wanderte auf die imaginäre To-do list.

"In Ordnung. Dann werde ich wen anders fragen." Sie sahen sich beide um, doch außer ihnen war um diese Uhrzeit niemand mehr auf den Straßen. "Ich bin Sven, und Sie?" Der Fremde lächelte wieder das schiefe Lächeln. "Fabian." Er ergriff die ihm gebotene Hand nicht, sondern vergrub die Hände wieder in der Tasche. Fabian wollte sich umdrehen und gehen, aber irgendwie brachte er es nicht über sich, den anderen hier einfach stehen zu lassen. "Sie sollten sich ein Taxi nehmen und in die Notaufnahme fahren." Er verstand nicht, warum Sven plötzlich zu lachen begann, aber kurz darauf krümmte der andere sich vor Schmerz. Klarer Fall fürs Krankenhaus. "Ich habe kein Geld dabei." Fabian tastete nach seinem Portemonnaie, aber er fand es natürlich nicht. Mit einem tiefen Seufzen sah er zu seinem kleinen roten Smart und schloss die Finger um den Schlüsselbund.

"Was ist überhaupt passiert? Wenn es ein Überfall war, dann sollte ich sie besser zur Polizei bringen." er starrte konzentriert auf die vom Regen nasse Straße, die im Scheinwerferlicht glänzte. "Das ist nicht nötig." Sven griff sich an die Nase und zog sie mit einem beherzten Griff zuerst nach unten und richtete sie sich dann mit einem ekelhaften Knacken. Fabian kannte sowas nur aus Filmen. "Ich habe ein paar Hundewelpen vor fiesen Typen gerettet." Sven lachte, bevor er den Kopf schüttelte. "Nein, natürlich nicht. Ich habe mich im Training mit den falschen Leuten angelegt und einer davon ist mir mit seinen Freunden aufgelauert und hat mir ein paar verpasst. Sowas kann passieren und das muss man nicht anzeigen." Fabian nickte, als würde er genau wissen, was der andere meinte. "Was trainieren Sie?" Der Riese neben ihm streckte sich und seufzte leise. "Kickboxen. Wie schon gesagt, sowas kann passieren. Ich hätte mir das genauso gut in einem Wettkampf oder sogar im Training zu ziehen können." Dass der andere Kickboxer war erklärte zumindest, warum er von den Verletzungen so unbeeindruckt war.

"Begleiten sie mich noch bis zum Krankenhaus oder soll ich noch sitzen bleiben, damit wir das Gespräch zu Ende führen können?" Fabian verdrehte die Augen und strich sich die langen Strähnen zurück unter die tief in die Stirn gezogene Kapuze. "Sie bluten meinen Sitz voll." Sven lachte erneut und wischte sich das Blut von der Nase. "Dann kommen sie wohl mit. Sehr schön." In der Hoffnung, ihn schnell los zu werden, schnallt Fabian sich ab und zog den Zündschlüssel aus dem Schloss, um auszusteigen. "Kommen sie?" Sven stieg ebenfalls aus, die Tasche hängte er sich wieder um.

Nach einem kurzen Fußweg kamen sie dann an dem hell erleuchteten Gebäude an. "Sie müssen mich nicht rein begleiten, das schaffe ich allein." Sven fuhr sich durch die wuscheligen Haare und lächelte. "Hatte ich auch nicht vor." Fabian verschränkte die Arme vor der Brust und sah den anderen fest an. "Darf ich sie als Dankeschön zum Essen einladen? Ich fände es schön, sie weiter kennen zu lernen." Fabian schüttelte den Kopf. "Dann etwas anderes? Ich würde mich echt gerne erkenntlich zeigen." Dieses Mal zuckte Fabian unschlüssig mit den Schultern. Er fand schon, dass er sich eine Entschädigung dafür verdient hatte, dass er dem anderen geholfen hatte, aber ihm fiel spontan nichts ein. "Darf ich ihnen meine Nummer geben? Dann können sie sich melden, wenn ihnen etwas einfällt." Fabian nickte und Sven holte sein Handy hervor, um Fabian die Nummer zu diktieren, der sie sofort in sein Handy speicherte. "Vielen Dank noch einmal. Ich mach mich mal auf den Weg." Mit einem unbestimmten Kopfnicken wies Sven auf den Eingang. "Machen Sie das."

Zurück in seinem Auto wollte Fabian gerne die von der Luftfeuchtigkeit klamme Maske abnehmen, sie klebte ihm unangenehm an der Haut und machte das Atmen schwer, aber er nahm sie nicht ab. Stattdessen sah er der großen Silhouette nach, die gerade durch die Tür der Notaufnahme ging und aus seinem Blickfeld verschwand. Mit einem leisen Seufzen zog er sein Handy aus der Tasche und entsperrte es. Das Telefonbuch war noch geöffnet, der neue Kontakt ausgewählt. Fabian war versucht, Sven eine Nachricht zu schicken, aber er wusste nicht was er schreiben sollte. Er wollte auch nicht, dass Sven seine Nummer hatte und ihm schreiben konnte, deswegen ließ er es bleiben. Er würde den anderen ohnehin nicht wieder sehen, deswegen war es egal.

U.G.L.Y. ~ Wintersaft Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt