Kapitel 5

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Es war einer dieser Tage, an denen er nicht aufstehen wollte. Oder viel mehr nicht ein zweites Mal. Nachdem er Sven bei der Buchhandlung rausgelassen hatte, war er noch fast eine halbe Stunde lang ziellos durch die Gegend gefahren, die Finger so fest ins Lenkrad gekrallt, dass sie weiß geworden waren, bevor er dann in seine trostlose Wohnung zurück gekehrt war. Nach all den Stunden hatte es gut getan, die Maske auszuziehen, doch seine Laune hatte es nicht heben können.

Mit offenen Augen starrte er in das Dunkel, die Rollläden hatte er runter gelassen, doch er sah immer noch viel zu viel. Er sah die Konturen des Schranks und auch die Kante, an der Wand und Zimmerdecke ineinander übergingen. Dort gab es einen großen Riss. Seine Augen brannten schon, aber er konnte sie auch nicht schließen. Es ging einfach nicht. Deswegen starrte er in das Trübe Grau-Schwarz und wunderte sich, warum er die Augen nicht schloss.

Irgendwann wurde es dunkel in dem Zimmer, weil draußen die Sonne untergegangen war. Falls Sven sich über Steam oder Discord gemeldet hatte, dann hatte er das nicht mitbekommen. Wie auch? Der Computer stand ein Zimmer weiter und war ausgeschaltet. Er seufzte leise und blinzelte langsam. Er könnte einen kleinen Spaziergang vertragen, aber seine Knochen waren bleischwer, es war nicht möglich, aufzustehen. Eine kleine Fliege surrte durch den Raum, er verfolgte sie kurz mit seinen Augen, dann wanderte der trübe Blick wieder zu dem großen Riss. Seine Blase drückte unangenehm, doch auch das konnte ihn nicht zum Aufstehen bewegen. Warum war er auch ins Bett gegangen und nicht an seinen Rechner?

Er schaffte es erst aufzustehen, als am nächsten Morgen sein Wecker klingelte. Mit einer langsamen Handbewegung ließ er den Finger auf die richtige Taste wandern und drückte sie, bis der Wecker endlich verstummte. Durch die Spalten im Rollladen schien die Sonne in das kleine Zimmer, in den hellen Flächen tanzte der Staub. Mit einem Ächzen schwang er die Beine aus dem Bett und schlug die Bettdecke zurück. Das alte Bettgestell knackte, als er  aufstand und einige zaghafte Schritte tat. Erst als er langsam den Rollladen hochkurbelte, bemerkte er wieder, wie sehr seine Blase drückte. Mit kleinen Trippelschritten hastete er in das dunkle Bad ohne Spiegel.

Heute gab es im Kühlschrank ausnahmsweise etwas zu essen. Seine Schulter knackte, als er eine Packung Milch aus der Tür nahm und auf den Tresen stellte. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Cornflakes zu kommen, die Packung kam ihm entgegen und drohte auf den Boden zu fallen, doch er konnte sie gerade noch rechtzeitig fangen und so konnte er sich ein Müsli machen. Ganz allein setzte er sich an den Tisch und begann zu Löffeln. Es schmeckte nicht schlecht, aber irgendwie war es doch fad. Irgendetwas stimmte nicht und das lag ganz sicher nicht daran, dass er seit Jahren mal wieder auf einer Party gewesen war.

Es war schon Mittag, als er endlich verstand, was ihm ein unwohles Magengefühl bereitete. Dieses Mal war es nicht Sven gewesen, der ihn versetzt hatte, sondern anders rum. Er war am Abend mit Sven zum Zocken verabredet gewesen und er war nicht online gewesen. So schnell er konnte, machte er sich auf den Weg zu seinem Rechner und machte ihn an. Während der Computer hochfuhr und der Bildschirm sich anschaltete, setzte er sich auf seinen Stuhl und lehnte sich an die passend geformte Rückenlehne. Seine Finger mit den abgekauten Nägeln trommelten auf der zerkratzten Platte herum, doch egal wie lange er auf den Desktop starrte, es kam keine Nachricht von Sven.

Er seufzte leise und strich sich die Haare aus der Stirn. Die Haare, die er mal wieder färben musste. Färben und schneiden. Ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, suchte er nach einer Schere, doch die einzige die er fand war eine alte, stumpfe Kinderbastelschere. Egal, das musste reichen. Er blieb stehen wo er war und begann sich die Haare zu kürzen. Strähne um Strähne fiel zu Boden, doch als er einmal rum war und alle Strähnen ungefähr gleich lang waren, reichten sie ihm immer noch bis über die Schultern. Was spielte es schon für eine Rolle? Die Haare blieben liegen wo sie waren, er ging rüber ins Bad und machte sich dort am Waschbecken die Haare nass machte, um sie neu einzufärben.

Erst Stunden später kam er dazu, das Ergebnis der undurchdachten Aktion mit Maske in der Handykamera anzusehen. Es sah in Ordnung aus. Die Farbe war nicht so gleichmäßig, wie sie hätte sein sollen und sie war auch ziemlich leuchtenden grün geworden, aber zumindest war die Farbe nicht mehr so ausgewaschen und der Ansatz war nicht mehr ausgewachsen. Trotzdem sah er immer noch wie ein zerrupfter Vogel aus. Deswegen zog er sich die Kapuze wieder über den Kopf und verbarg alle Haare darunter.

U.G.L.Y. ~ Wintersaft Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt