1. Der Anfang vom Ende *überarbeitet*

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Für F.
Weil ich mit all meinen Worten nur einen Weg zurück zu dir suche.
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Luft. Ich muss atmen. Die saubere Luft aufnehmen und die verbrauchte ausstoßen, meine Lungen arbeiten lassen, mein Herz schlagen lassen. Atmen. Nicht daran denken, dass du es nicht mehr tust.

Ich war vom Weg abgekommen. Der Wald, wie ich ihn kannte, war verschwunden; meine Füße hatten sich ihren eigenen Weg über Wurzeln und Steine gesucht, bevor das Vertraute ihnen abhanden gekommen war und sie mich in einem endlosen Nichts stranden ließen.

Ich wusste nicht mehr, wo ich war, aber es machte mir nichts aus. Ich musste nichts mehr wissen. Mein Verstand tanzte einzig um die Gedanken, was ich dem Schicksal getan hatte, dass es mir das Messer nicht nur in die Brust gestoßen, sondern jetzt auch noch den Griff gepackt und mit der Klinge in meinem vernarbten Herzen eine Pirouette vollführt hatte.Welchen Sinn hatte es hinter dieser Grausamkeit gesehen?

Warum ließ es nicht mich sterben, warum musstest du es sein..

Erschöpft lasse ich mich auf die Knie sinken, starre in das vernebelte Unterholz, das überhaupt nicht vernebelt ist, aber der Tränenschleier, der sich über meine Augen gelegt hat, illusioniert mich. Gepresst atme ich kleine Wolken in die kalte Luft, während meine Hände versuchen, mein Körpergewicht zu stützen und meine Seele davon abzuhalten, sich auf den Waldboden zu legen und mit der gefrorenen Erde einszuwerden.

Mein Kopf wird schwer und irgendwann nehme ich nur noch wahr, dass die salzigen Tränen ungestoppt über meine Wangen laufen und zu Boden tropfen. Ich stelle mir vor, wie ihre Hitze zischend auf die Kälte der Welt fällt und sich auflöst. Erstickt wird. Es sind nicht meine Tränen. Sie gehören dir.

Ich denke, dass es nicht real sein kann, dass ich in einen meiner Träume gezogen wurde, bevor ich aufwachen konnte. Aber noch nie hat es sich realer angefühlt als in diesem Moment.

Die Taubheit meiner Finger, als ich nun versuche mich an etwas festzuklammern, um nicht aus dem Rythmus dieser Welt zu fallen, und meine Hände doch nur Erde und Sandkörner zu fassen bekommen, die sich unter meine Fingernägel graben. Die harten Arme der Bäume, die unter meinen Beinen zu sterben scheinen.

Ich will mir das Messer aus der Brust ziehen und meiner Trauer gezielt ein Ende setzen, doch meine zitternde Hand greift ins Leere. Kein Messer in der Wunde - auch kein Herz.

Wie lebt es sich mit zwei Herzen?
Ach, du lebst ja nicht mehr...


Lieber Florian,

heute hat mich die Nachricht erreicht, die mein ganzes Leben verändert. Wusstest du, dass ich immer ein Leben mit dir wollte? Natürlich wusstest du es nicht, nicht so. Dieses Leben werde ich niemals bekommen.

Ich frage mich, wohin du unterwegs warst. Auf einer abgelegenen Landstraße. Ich frage mich, wie der Unfallverursacher dich übersehen konnte. Dich übersieht man nicht einfach! Sogar ich habe dich immer gesehen, und du weißt, ich kann sehr verpeilt sein. Sogar ich habe dich immer gesehen, obwohl du mein bester Freund und somit eine Selbstverständlichkeit in meinem Alltag warst. Vielleicht habe ich dich aber auch immer gesehen, weil du nur als bester Freund so selbstverständlich warst..

Deine Mutter stand plötzlich vor unserer Haustüre und schon an der Art wie sie geklingelt hat, habe ich erkannt, dass etwas nicht stimmt. Ich wusste, dass etwas schreckliches passiert ist, weißt du. Schrecklich, ja, aber nicht das, nicht mit dir.

Man denkt, soetwas passiert immer nur Anderen oder in schlechten Filmen, aber jetzt lebe ich einem dieser schlechten Filme. Und er muss schlecht sein, weil es keinen Helden geben wird. Und keine Liebesgeschichte. Kein Happy End.

Kennst du jemanden, der mich das Drehbuch umschreiben lässt? Vielleicht hast du jetzt so jemanden kennengelernt. Er nennt sich Gott, aber ich glaube, das ist nur ein Pseudonym. Er hat schon so viele schlechte Filme gemacht, dass er nicht möchte, dass man sie alle zu ihm zurückverfolgen kann. Dabei bringt man uns jahrelang bei: "Augen auf bei der Berufswahl". Er hat wohl im Unterricht geschlafen und sich dann ziellos eine Nummer gezogen. Oder den Kürzeren. Oder die Arschkarte. Vielleicht ist er schon früher beim Schulsport immer als letzter in eine Mannschaft gewählt worden und das hat sich dann durch sein Leben gezogen. Am Schluss musste er nehmen, was er bekommen konnte und das war, was kein Anderer wollte. Weil keiner gerne schlechte Filme sieht und keiner möchte derjenige sein, der Regie führt.

Fragst du ihn, ob wir die letzte Szene neu drehen können? Tu es für mich. Bitte.

Ich kann noch nicht glauben, dass du fort bist.

   Du wolltest nicht gehen oder? Nicht freiwillig!

Denn das hat der Polizist gesagt, der am Unfallort war. Er hat gesagt, er hätte schon viele Jugendliche gehabt, die sich das Leben genommen haben, und ein Motorrad wie deines sei eine verdammt gute Tatwaffe dafür. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt, dass du niemals gegangen wärst, ohne mich mitzunehmen. Und weil ich dir erzählt habe, dass ich Angst vor dem Tod habe, hättest du mich niemals mitgenommen und wärst niemals gegangen. Außerdem bist du ja nicht einfach tot vom Motorrad gefallen. Der andere Fahrer, ein Trucker hat dich berührt und wenn einen ein Truck streift, ist das etwas anderes als wenn einem ein Kätzchen um die Beine streift. Keine zärtliche Berührung - ein Schlag, ein Stoß, ein Tod.

Man sagte mir, du seist sofort tot gewesen und das nimmt mir ein wenig den Schmerz. Nicht sehr, aber doch beruhigend. Wenn du schon sterben musst, dann schnell und schmerzlos, wie man so schön sagt. Das klingt makaber. Man sagt auch "Hals- und Beinbruch" und soweit ich weiß, hast du dir tatsächlich Hals und Beine gebrochen, so wie fast jeden anderen Knochen in deinem Körper.

Ich hoffe, du bist nicht plötzlich aus deinem Körper gestiegen, der verdreht auf der kalten Straße lag, und bist auf die hektischen Menschen zugegangen, um nachzufragen, was denn passiert sei. Ich hoffe, du hast dich nicht suchend umgesehen, um den verunglückten Motorradfahrer zu finden, von dem alle so laut reden. Und ich hoffe, du musstest nicht auf einmal erkennen, dass dich keiner wahrnimmt und du eigentlich verloren auf dem dreckigen Teer liegst. Neben dir stehst. Ich hoffe, es ging ganz schnell, war einfach vorbei.

Vielleicht ist der Tod wie eine Impfung, vor denen ich, wie du weißt, auch Angst habe - also vor den langen Nadeln, die sich durch die Haut bohren. Man hat Angst und möchte nicht daran denken. Man hat Angst vor den Schmerzen. Aber dann geht es ganz schnell und es ist schon wieder vorbei, bevor man überhaupt begreifen kann. Das ist nicht der schönste Tod - kann der Tod schön sein? -, aber schöner als Schmerzen.

Irgendjemand muss wohl immer leiden. Denn irgendjemand bleibt immer zurück. Ich bleibe zurück. Und ich leide. Weil ich nicht weiß, wie es dir geht.

Wie geht es dir?

   Du kannst ehrlich mit mir sein, das weißt du!

Deine Elina


WENN ER STIRBT | ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt