17. Fallen (lassen) *überarbeitet*

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Auf dem Weg zu mir hat Luca kein Wort mehr gesagt. Eigentlich nichts ungewöhnliches, aber es war anders als vor dem Besuch bei Klara. Vor dem Moment, in dem wir Florians Zimmer betreten haben. Ich habe Angst, ihn wieder zu verlieren, es nicht mehr zu schaffen, ihn am Leben zu halten. Doch Florian setzte all sein Vertrauen in mich, dass ich dazu fähig bin, und ich werde ihn nicht enttäuschen!

Vor meiner Türe haben wir uns verabschiedet und ich habe ihm nachgesehen wie er mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf verschwunden ist. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich ihn nicht hereingebeten habe oder ihm nicht hinterher gegangen bin.
Andererseits war es auch für mich ein schwerer Tag und Klaras Worte kreisen noch immer in meinem Kopf.

In letzter Zeit war ich nur wenig ganz allein. Mein Kopf liegt auf der Tischplatte unseres Esstisches, an dem ich sitze. Meine Mutter und mein Stiefvater sind nicht Zuhause und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das gut oder schlecht finde. Es lässt sich kein klarer Gedanke fassen, der vom nächsten nicht wieder über Bord geworfen wird.

Es ging mir gut. Ich war stark genug, anderen ein Rettungsring zu sein, doch nun scheine ich, die letzte Hürde der Rettung nicht mehr nehmen zu können. Ich hänge an der Außenwand des Schiffes, das mich aufnehmen und in den sicheren Hafen bringen will, ohne die Reling erreichen zu können, ohne mich an Deck ziehen zu können.

"Immerhin lässt du nicht das gesamte Schiff kentern."

Erschrocken hebe ich den Kopf und sehe dich am anderen Ende des Tisches sitzen. Dein Kinn in die Hände gestützt siehst du mir zu, wie ich gegen den Untergang kämpfe.

"Du hast dich verschätzt, Florian. Ich schaffe es nicht, ich bin nicht stark genug, alle zu stärken."

Deine Mimik ist unbewegt und du strahlst diese Ruhe aus, die mich nicht laut werden lässt. Ich wäre verzweifelt genug, laut zu werden.

"Ich habe nicht gesagt, dass du alle stärken musst. Ich habe nicht erwartet, dass ihr wieder aufsteht. Nur dass ihr zusammen fallt, wenn es sein muss." Du setzt dich aufrecht hin und faltest deine Hände vor dir wie zu einem Gebet.

"Du weißt selbst, dass einfach nur jemand da sein muss, der versteht. Erinnere dich an den Tanz. Wenn dein Partner fällt, fällst auch du. Doch du versuchst, das zu verhindern. Du möchtest tanzen, vorwärts schreiten. Nichts unmachbares. Wenn du Glück hast, führst du so gut, dass auch dein Partner den Tanz begreift und vielleicht tanzt ihr so gut, dass es sich anfühlt wie fliegen. Das ist dein Ziel. Der Weg dorthin besteht auch aus fallen, lass dich davon nicht entmutigen. Sei derjenige, der sich wieder aufrappelt und deinem Partner die Hand entgegenstreckt, oder der mit auf dem Boden sitzt und sagt, 'Gut, dann tanzen wir im Sitzen!'. Sei einfach da."

Du grinst über deine eigenen Worte, während ich die Stirn runzle und darüber nachdenke, was du gesagt hast. Wann bist du so tiefgründig geworden, wann hast du überhaupt angefangen, so viel zu reden? Ich weiß, was ich tue, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich weiß. Mit einem Ruck stehe ich auf, meine Füße tragen mich zu dir, gebe dir einen kleinen Kuss auf die Wange und schnappe mir Jacke und Schlüssel. Dann lass uns tanzen!

Es ist bereits dunkel und abends wird es immer noch kälter als es ohnehin zu dieser Jahreszeit tagsüber ist. Ich ziehe meine Jacke enger und schiebe mein Gesicht tiefer in den Schal. Bereits zum dritten Mal drücke ich auf den Klingelknopf, doch es rührt sich nichts. Kurzentschlossen gehe ich ums Haus hinunter in den Garten und spähe durch die Fensterfront in Lucas Zimmer. Obwohl es sich im Keller des Hauses befindet, lässt es sich von dieser Seite aus dank des Hanges wie das Erdgeschoss betreten.

Das Zimmer ist dunkel und zögernd klopfe ich an die Glastüre. Nichts. Meine Entschlossenheit verlässt mich und ich möchte schon wieder gehen, als etwas im Inneren des Raumes umzufallen scheint. Ich drehe mich zurück und erkenne in der Gestalt hinter der Scheibe Luca, der sich sichtbar schwer tut, die Türe zu öffnen, es schließlich doch schafft.

Ich lächle ihm zu, grabe meine Hände aus den Manteltaschen und merke erst als er anfängt zu reden, dass er getrunken hat.

"Heey! Ich hab gerade an dich gedacht! Du bist genau richtig, komm!", freut er sich leicht lallend und zieht mich in den Raum. Ich konnte gerade noch meine Schuhe ausziehen, lege jetzt auch Jacke und Schal ab. Er lässt mich gar nicht zu Wort kommen, drückt mich auf den Boden neben seinem Bett und schmeißt sich neben mich.

Unter dem Bett holt er eine angefangene Flasche Goldenen Tequila hervor und hält sie mir vor die Nase, "Orangen und Zimt sind aus.". "Nein, danke.", wehre ich ab und beäuge ihn kritisch, was mir in dem dunklen Zimmer nicht sehr gut gelingt. Luca hat nie großartig getrunken und sein Zustand überrascht mich ziemlich.

"Komm schon, tut gut!", immer noch auffordernd streckt er mir den Alkohol entgegen. Florians Worte fallen mir ein. Wenn dein Partner fällt, fällst auch du. ~ Oder sei derjenige, der mit auf dem Boden sitzt und sagt, 'Gut, dann tanzen wir im Sitzen!'. Ich greife nach der Flasche und nehme einen großen Schluck, gleich darauf verziehe ich das Gesicht. Tequila gehört noch zu meinem Lieblingsalkohol, aber komplett pur?

Wir sind auf das Bett gewechselt, sehen jetzt aus wie.. - nicht mehr wie zwei gestrandete Seesterne. Wie zwei Teenager, die ihren Schmerz in Alkohol ertränkt haben. Wir liegen auf der Seite, sehen uns an und lachen. Luca kann seine Finger nicht stillhalten, spielt mit einer meiner braunen Haarsträhnen. Ich nehme gar nicht wahr, dass seine Hand plötzlich ein paar Strähnen hinter mein Ohr streicht und dann auf meiner Wange liegen bleibt.

Seine Lippen schmecken nach Alkohol, aber das dürften meine auch. Es stört mich nicht. Es stört mich ohnehin nichts mehr.

Du, der du mich liest,

warum liest du mich noch? Dürftest du nicht schon genug haben, von meinen Gedanken? Kranke Gedanken, die du nicht nachvollziehen kannst, nicht verstehst, weil du ein Lebender bist. Man wird doch sofort verurteilt, man muss nur ein wenig anders sein. Anders ist in unserer Gesellschaft nur ein weiteres Wort für falsch.

Ich habe versucht, mich zu öffnen, das habe ich wirklich. Ich habe versucht, mit Menschen zu sprechen, zu zeigen, wen ich verstecke und dass derjenige Hilfe braucht. Doch keiner wollte es wahr haben. Sicher haben es ein paar gesehen, doch mit dieser falschen Sache wollten sie nichts zu tun haben. Es gab eine Person, die mir das überdeutlich zu verstehen gegeben hat. Und das hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich meine, nicht dass ich noch sicher gestanden hatte, doch ich war nur kurz davor, zu fallen, durch sie bin ich es. Und so hart aufgeschlagen, dass ich schon keinen Schmerz mehr gefühlt habe.

Es gibt ein paar Dinge, in meinem Leben, die ich bereue, doch nicht, dass ich versucht habe, mich jemandem anzuvertrauen, obwohl es so weh getan hat. Denn das hat mir bestätigt, dass ich nicht einmal bei dem Menschen ich selbst sein kann, der mir am meisten bedeutet. Bei wem sonst?  Es ist traurig, dass ich diese Erfahrung machen musste und dass sie sich so in meinem Kopf festgesetzt hat, denn vielleicht habe ich erst danach jemanden getroffen, der alles besser gemacht hätte. Wenn ich diesem Versuch eine zweite Chance gegeben hätte. Doch das habe ich nicht.

Also, warum liest du mich noch? Weil es dich interessiert, wie die Geschichte endet, wie ich ende, wie ich allem ein Ende mache. Weil du ein schaulustiger Lebender bist, ihr alle. Weil es jeder wissen will, wenn es einem schlecht geht, doch sobald wirklich etwas passiert, will niemand mehr davon gewusst haben. Weil ich wie eine Unfallstelle bin, die jeder gesehen haben muss, über die jeder redet, und zu der jeder die Rettungswege blockiert.

Ich war gefallen, wurde fallen gelassen und habe bereits die Entscheidung gefällt, mich nicht mehr zu fangen, stattdessen weiterzufallen, immer weiter. Ich bin ein Gefallener. Doch ich werde für immer fallen, deshalb kein Gefallener, sondern ein Fallender. Flieg mit mir, wenn du kannst.

Luca


Youtube lässt mich leider nicht das Original Lied Bright lights von Thirty Seconds To Mars anhängen :(

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