Der Regen trommelt gegen mein Fenster, die Scheibe scheint von der Stärke der Tropfen zu zerspringen, aber sobald sie auf diesen Widerstand gestoßen sind, laufen die kleinen Wasserovale nur die Wangen meines Spiegelbildes hinunter. Nur mein Spiegelbild weint. Ich habe angefangen, anders zu trauern, weil keine Tränen mehr kommen wollten. Nicht, dass ich jemals aufhören könnte, um dich zu trauern. Nicht, dass ich es bereue, all meine Tränen dir gegeben zu haben, bis zum Versiegen.
Irgendetwas muss ich tun, um nicht nur nachzudenken. Es frisst mich auf. Beinahe kann ich die Spuren meines Auf- und Ablaufens im Teppich sehen. Ich lasse meinen Blick schweifen, aber alles hier drängt mir Erinnerungen auf. An den Wänden hängen unsere gemeinsamen Fotos, auf denen wir so unendlich glücklich zu sein scheinen, obwohl wir den Höhepunkt unseres Glücks niemals erreicht haben. Gleich daneben die Postkarten, die an deiner Stelle den Weg zu mir fanden. In meinem Regal fällt mein Blick auf Filme, die du nach unserem letzten Abend bei mir vergessen hast und ein leiser Schrei sammelt sich in meiner Kehle. Nie dachte ich, dass dieser Abend einmal eine der schmerzhaftesten Erinnerungen sein würde. Aber nie dachte ich auch, dass es unser letzter gemeinsamer Abend sein würde.
Das letzte Mal, dass du mir die schmale Treppe ins ausgebaute Dachgeschoss folgst. Das letzte Mal, dass du deine Sweatshirtjacke achtlos über meinen Schreibtischstuhl wirfst als wärst du hier zuhause. Das letzte Mal, dass wir uns darüber streiten, wer den Film aussuchen darf und du gewinnst, weil ich so verliebt bin in den triumphierenden Blick nach deinem kleinen Sieg über mich. Das letzte Mal, dass du mir das frische Popcorn an die Stirn schmeißt, nur um gleich darauf die Stelle mit deinen Lippen zu trösten. Das letzte Mal, dass du mein Sofa mit deiner vollen Länge einnimmst und uns beim Versuch, mich von deinen Beinen zu strampeln, beide auf den Boden katapultierst. Das letzte Mal, dass ich deine großen Hände an meiner Hüfte spüre und näher an deinen Körper gezogen werde. Das letzte Mal, dass ich deinen warmen Atem an meinem Hals wahrnehme. Das letzte Mal, dass ich denke, was für ein Glück ich habe, dich als besten Freund zu haben.
Das letzte Mal, dass ich überlege, was für ein schönes Paar wir wären, würden wir uns nur trauen.Ruckartig stehe ich auf und zerre das mir viel zu große Tshirt aus meinem Schrank, das ich mir mal von dir geklaut habe. Ich ziehe es über. Es riecht schon lang nicht mehr nach dir, dafür hatte ich es zu oft an, habe ich es zu oft in die Wäsche gesteckt. Aber ich fühle dich, noch näher.
Du sagtest, dass du mich nie verlassen wirst. Du sagtest, dass du mich überall hin begleitest, überall hin mitnimmst. Du sagtest, dass du dir nichts ohne mich vorstellen kannst. Du sagtest, dass ich das beste bin, das dir passiert ist in deinem Leben.
Enttäuscht. Enttäuscht von einem Menschen, der dir so viel bedeutet, dem du so viel geglaubt hast, dem du so viel gezeigt hat. Enttäuscht, obwohl du von vornherein wusstest, dass es nicht gut gehen wird, nicht gut gehen kann. Aber dann kannst du es nicht zurückhalten. Es überkommt dich einfach wie eine große, starke Welle. Nimmt dich nicht mit, aber hinterlässt seine Spuren auf dir. Das Salz legt sich wie eine zweite Haut auf deinen Körper, hält sich fest und du wirst es noch lange spüren, in jeder Hautpore. Enttäuscht, so tief verletzt worden zu sein, wie es nur möglich war. Enttäuscht, nicht vorher gesehen zu haben, worauf es hinauslaufen wird und deshalb enttäuscht von sich selbst, sich nicht geschützt zu haben.
Enttäuschung, die dem Anderen vielleicht unrecht tut, aber viel stärker nimmst du das Unrecht wahr, das dir entgegengebracht wurde.Ich mache dir keinen Vorwurf, natürlich nicht, du bist tot. Aber nicht jede Zelle meines Körpers will verstehen. Nicht jede Zelle richtet sich nur gegen mich selbst. Nicht jede Zelle ehrt dich noch. Nicht auf jede Zelle bin ich stolz. Aber jede Zelle ist ein Teil von mir und jeder Gedanke wird von mir gedacht und für jedes Tun bin ich verantwortlich.
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WENN ER STIRBT | ✔︎
Teen Fiction"Wie lebt es sich mit zwei Herzen? Ach, du lebst ja nicht mehr.." (aus Kapitel1) Als Elina von Florians tödlichen Motorradunfall erfährt, bricht sie zusammen. Verliert sich in den Gedanken und Erinnerungen an ihren besten Freund und an ihre Liebe, d...