22. f

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Ich wäre an der Reihe, etwas zu sagen, aber ich weiß nicht, was. Mein Kopf kann seine Worte noch nicht ganz einordnen. Was ich weiß, ist, dass ich ihn jetzt endlich küssen will.

Luca löst seine Lippen von meinen, "Ist das deine Antwort?", er lächelt, doch ich sehe, dass er sich eine tatsächliche Antwort erhofft hatte. Es fällt mir immer schwerer, zu reden, das merke ich schon länger. Es wird einfach anstrengender, den Mund zu öffnen und die richtigen Worte zu finden, ist, als verlässt mich wieder die Kraft, die ich neu gesammelt hatte. Als säße ich in einem Kühlhaus, eingesperrt, unfähig, mich zu befreien. Mir ist bewusst, dass ich wach bleiben muss bis ich das Glück habe, gefunden zu werden, doch meine Augenlider werden immer schwerer. Es kommt der Moment, ab dem ich nur noch darauf warte, für immer einzuschlafen. Darauf, dass die Kälte ihre eisigen Arme um mich schließt, meinen bereits in kleine Rauchwölkchen verwandelten Atem stoppt und meine Haut endgültig mit einer dünnen Eisschicht zudeckt.

"Er hätte mir von dem Wohnwagen erzählen können, für wen hätte ich mich gehalten, ihn euch wegzunehmen! Aber ich verstehe, dass es eines der wenigen Dinge war, das wirklich nur euch beiden gehörte. Euch oder dir. Ich wusste nicht, dass dir die Welt so zu schaffen macht. Ich wusste auch nicht, dass ich ein Ort für jemanden sein kann.."

"Glaub mir, du bist mehr als ein Ort, du bist eine ganze Welt. Eine Heimat, die man nie verlassen möchte, auf die man stolz ist und für die man alles tun würde."

Er verstärkt den Griff um meine Hüfte und fährt mit der Hand unter meinen Pullover. Ich genieße seine Berührungen genauso sehr wie seine geflüsterten Worte. Es hilft mir so unheimlich, zu wissen, dass ich jemandem so viel bedeute. Und bedeutet habe. Einen kurzen Moment verlässt sein Atem mein Schlüsselbein, um meinen Pulli über den Kopf zu streifen.Mit zitternden Händen ziehe ich ihn wieder nähe, möchte meine Finger in seinem Nacken verschränken, doch entscheide mich dann dafür, die harten Konturen seines Gesichts nachzufahren. Seinen Kieferknochen liebe ich besonders.

"Du bist alles, das ich noch brauche, Luca! Lass mich bitte nie mehr allein und hör niemals auf, mir deine Worte zu schenken! Ich wollte dir helfen und dich retten, aber in Wirklichkeit hast du mich gerettet! Ich weiß nicht, wo ich ohne dich gelandet wäre, wer ich dann noch wäre. Du verstehst mich mit jeder Faser deines Körpers und du verurteilst mich nicht für Gefühle, die ich selbst nicht lenken kann. Ich wünschte, ich könnte dich lieben, aber zur Zeit weiß ich gar nicht, ob ich noch an Liebe glauben will. Ich hätte Angst, dass du mich verlässt, wie er es getan hat, nur weil ich so fühle. Und ich kann nicht zulassen, dich auch zu verlieren!"

Meine Augen sind geschlossen und so sehe ich nicht, dass sich neben einem Lächeln, das über sein Gesicht huscht, das ich noch immer in den Händen halte, auch eine einzelne Träne über seine Wange stiehlt. "Niemals!", dann beginnt er, meine Hände in seine zu nehmen und mein Handgelenk entlang zu küssen. Erst zu spät erinnere ich mich an das, was ich erfolgreich die letzten Wochen schützen konnte, auch vor ihm. Dank der Temperaturen hatte ich immer Gründe, meine Arme mitsamt den Handgelenken in langen Pullis zu verstecken. Sanft fährt er mit der Fingerkuppe darüber und ohne die Augen zu öffnen, weiß ich, dass er es ausgiebig begutachtet.

"Sagst du mir, was es bedeutet?"

Erst möchte ich den Kopf schütteln, es gehört mir und es ist so viel mehr als nur zwei Symbole aus schwarzer Tinte unter der Haut. Dann erinnere ich mich, dass es Luca ist, der gefragt hat, und dass er es mir niemals wegnehmen würde, dass wir uns blind vertrauen. Ich sehe in seine braunen, warmen Augen und versuche zu erkunden, ob er bereits weiß, was es bedeutet. Natürlich weiß er es. Er kennt mich. Wenn nicht er, wer dann?

Ich fahre ebenfalls mit dem Finger über die verheilte Haut an meinem linken Handgelenk. "Stell dir eine Geige vor, male sie um die beiden Symbole und du erhälst in ihnen die ff-Löcher des Violinenkörpers, die dem verstärkten Schall die Freiheit eröffnen."

In seinem Blick sehe ich, dass er es sich tatsächlich vorstellt und fahre fort: "Mein Opa war mein größter Fan. Er hat mich in allem unterstützt, er hat mir immer wieder eine größere Geige besorgt, wenn ich eine brauchte und ist zu allen Konzerten des kleinen Kammerorchesters gekommen, in dem ich gespielt habe. Und es hat ihn verletzt, als ich nach sechs Jahren plötzlich aufhörte, Unterricht zu nehmen. Vor drei Jahren ist er nach einer Operation und langen kritischen Wochen auf der Intensivstation verstorben.

Ich kann mich noch genau an seine letzten geflüsterten Worte an mich erinnern: Ich wusste nicht, dass ein Mensch solche Schmerzen ertragen kann. Es geht zu Ende mit mir, Elina. Ich habe ihm gesagt, dass alles wieder gut wird, dass er es schafft, aber er hat Recht behalten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh es getan hat, ihn in dem sterilen Krankenhauszimmer liegen zu sehen, seine Hand zu halten und zu hören, was für unglaubliche Schmerzen er hat. Er hatte den Tod bereits vor Augen.."

Bei dieser Erinnerung laufen mir immer wieder die Tränen lautlos übers Gesicht. Ich lasse zu, dass Luca sie mit dem Daumen sanft auffängt. "Das ist die eine Person, die das Tattoo für mich zeigt, bedeutet. Die andere findest du in dem linken der Symbole, das in seiner Darstellung von einer Geige abweicht. Ich wollte es leicht verändert, damit es aussieht wie ein kleines f. Für Florian.

Keiner weiß von dem Tattoo, ich habe es mir kurz nach seinem Tod stechen lassen. Ich glaube nicht, dass ich jemals jemandem erzählen werde, was das f wirklich bedeutet. Sollte jemand fragen, werde ich "Familie" sagen. Es ist nur für mich, eine ewige Erinnerung an ihn. Dass ich ihn kennenlernen und an seinem Leben Teil haben durfte, ist mir sprichwörtlich unter die Haut gegangen. Ich habe ihn verloren, doch er hatte mich bereits gezeichnet. Deshalb dieses Zeichen unter meiner Haut..
Nur dir, dir vertraue ich das an."

"Danke." Ein Wort, fünf Buchstaben. Sie reichen mir als Reaktion. Sie kommen von Luca und von seinen Lippen, die sich jetzt auffangend auf meine pressen.

Mit meiner Geschichte ist mein Herz um einiges leichter geworden. Es ist wahr, ich habe nicht vor, je wieder zuzugeben, dass das f für den Namen einer Person steht. Eine Person, die ich mehr liebe als mich selbst. Mehr als die Natürlichkeit meiner hellen Haut.

Es tut so gut, zu sprechen, solange man es mit der richtigen Person tut. Und er wird immer die richtige Person sein. Auch für diese Nacht, in der ich erst wahrnehme, wie groß mein Verlangen nach ihm, nach seinem Körper wirklich war, ist.

Ich müsste sein Gewicht auf mir spüren, doch wider aller Erdanziehungskraft, fühlt es sich an, als schwebten wir, federleicht. Und plötzlich fällt mir ein, woher ich mein monotones Piepsen kenne. Die Erinnerung an meinen Großvater hilft mir dabei.

Bevor ihr nachfragt: Ja, das auf dem Foto sind mein Handgelenk, meine Geige und mein Tattoo. Es hat auch tatsächlich die in der Geschichte beschriebene Bedeutung. Und ja, wenn ihr mich außerhalb dieser Geschichte fragt, was es bedeutet, werde ich euch nicht die Wahrheit erzählen.
(Nein, ich denke mir nicht zu einem wildfremden Tattoo spekulative Bedeutungen aus.)

WENN ER STIRBT | ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt