Der Schmerz wächst. Wächst, weil mir wieder bewusst wird, dass, auch wenn du bei mir bist, du nicht mehr bei uns bist.
Durch Luca wird mir klar, dass der Schmerz die Realität ist und dass ich aus dem Traum aufwachen muss, mit dem ich mich schütze. Mir wird klar, dass wir diesen Winter nicht mehr zusammen Schlitten fahren werden, dass wir das weiße Pulver nicht zu Bällen formen werden, um uns gegenseitig abzuwerfen. Dass du genau genommen nie wieder das Gefühl einzelner Schneeflocken auf deiner Haut fühlen wirst, dass du nie wieder neben mir im den weißen Kristallen liegen wirst, Arme und Beine im flatternder Bewegung, einen Engel formend.
Jedoch kitschig zu glauben, du seist nun selbst zu einem geworden statt ihn nur zu formen.
Können wir uns selbst formen?
Vielleicht nicht wie wir Ton in Form bringen können, aber mit Sicherheit formt uns jede unserer Taten und jede Entscheidung, selbst die passiven. Wie meine Entscheidung, dich zu verletzen, und deine Entscheidung, mir zu verzeihen.Du warst so nah wie kein Anderer, aber ich stieß dich weg. Weil ich mir einredete, er, einer der Anderen, täte mir gut, besser als du. Doch ich irrte mich. Du bist das Beste, das weiß ich jetzt.
Vielleicht stieß ich dich gar nicht für einen Anderen von mir, vielleicht bin ich einfach nicht fähig, Nähe zuzulassen und der Andere war nur meine Ausrede. Mein Vorwand, meine Gefühle zu schützen und damit mich selbst. Wovor? Vor dir.
Weil ich Angst hatte, ich könnte die Kontrolle über mich an dich verlieren. Weil ich dich schon damals liebte und das wusste ich auch, tief in meinem Inneren. Bestimmt.
Der Andere war es gar nicht wert. Wir wollen die Falschen lieben und sehen deshalb die Richtigen nicht. Wir wollen geliebt werden und übersehen, wer uns wirklich liebt, übersehen die Herzen, die man uns entgegen bringt, opfert, wo es keine Opfer geben sollte.
Du bist reinen Herzens. Du hast schon immer geliebt und wirst es auf ewig. Du kannst geben, ohne zu bekommen, kannst geben, ohne zu nehmen, erwartest nichts. Du kannst verzeihen.
Wenn wir uns formen können durch Taten und Entscheidungen, dann hast du mich geformt. So viel meines Lebens hing von dir ab. Du bist der Rahmen, aus dem ich nicht zu fallen vermochte, weil er mich hielt, in seiner Form. Du hast meine Tränen in ein Lächeln verwandelt. Du hast aus dem unfertigen Teig einen Kuchen gebacken. Du hast dem Blatt Papier eine aerodynamische Form gegeben und es, mich, fliegen lassen. Du hast die Wellen gebrochen, die sich vor mir aufbauten, bevor sie mich überrollen konnten.
Du hast mein Herz zu dem gemacht, was es heute ist. Du hast es zu einem Herzen geformt.
Es musste nicht erst schneien, damit du mir deine Form zeigen konntest. Du warst immer schon der Engel in meinem Leben.
Ich dachte, ich bereue nichts, aber ich bereue die Zeit, in der ich dich so bewusst übersehen habe. Sind wir dazu verdammt, immer erst im Nachhinein zu erkennen, was wir erfahren durften? Vielleicht.
So viele Vielleichts in meinem Leben. Ein Vielleicht ist auch eine Entscheidung. Eine wacklige. Wie ein Jenga-Turm, dem man einen der unteren Steine genommen hat und der bei der kleinsten Erschütterung zu kippen droht und in sich einstürzt.
Er kann aber auch tapfer sein, stehen bleiben und Stand halten selbst, wenn man ihm noch weitere Steine nimmt, weitere Schäden zufügt und Leere hinterlässt.Ich weiß nicht, ob ich so standhaft bin. Immer noch nicht. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, ich bin bereits gekippt.
"Der schiefe Turm von Pisa steht auch noch, El.", bricht Luca plötzlich in meine Gedanken ein. Ich sehe ihn verwirrt an und dass er scheint, meine Gedanken lesen zu können, wirft mich so aus der Bahn, dass ich mit samt dem Stuhl, auf dem ich sitze, umzukippen drohe. Bevor ich auf dem Boden aufschlage, greifen zwei große warme Hände nach mir und bewahren mich vor dem Sturz und einer Erklärung, die ich mit Sicherheit hätte abgeben müssen, wenn ich durch den Fall den gesamten Physikkurs auf mich aufmerksam gemacht hätte.
Stotternd bedanke ich mich bei meinem Sitznachbarn, der mich nur anlächelt. Luca lächelt? Als ich ein zweites Mal hinsehe, ziert wieder die gewohnt neutrale, im Inneren leidende Miene sein Gesicht.
"Manche hohen Gebäude in Erdbebengebieten besitzen im oberen Teil die Konstruktion einer freihängenden Kugel, die im Falle eines Bebens die Schwankungen des Gebäudes ausgleicht. Vielleicht hast du das auch. Das Gefühl des Kippens bedeutet nicht das Kippen selbst."
Er wendet sich wieder dem Unterricht zu und meine Gedanken überschlagen sich. Als hätte er in meinen Kopf gesehen, jeden einzelnen meiner Sätze verfolgt, um mir dann mit seinen Worten die wiederaufbauenden Jenga-Steine zurückzugeben.
Ich will ihn fragen, wie er das wissen konnte, doch der Gong hält mich davon ab. Meine Sachen sind schnell zusammengepackt - es sind nicht einmal sieben - und obwohl Luca auf mich gewartet hat und mir die Frage immer noch auf der Zunge liegt, bringe ich sie jetzt nicht mehr über die Lippen. Wir sind noch immer Fische, ein kleiner schweigender Schwarm.
Auf dem Weg nach Draußen kommt uns ein anderer Schwarm entgegen. Laute, tollpatschige Pelikane, große Schnäbel, unsanfte Landungen. "Seid ihr zwei jetzt zusammen oder was?"
Ich blicke auf unsere ineinander verschränkten Hände. Sie meinen es gut, aber sie deuten die Zeichen falsch, immerhin geben sie sich mit einem "Und wenn schon." zufrieden und senken die Augen.
Die Anspannung fällt von uns, als wir durch die Eingangstüre treten und uns die kühlende Luft empfängt und umschließt. Ich drücke seine Hand und Luca fährt sanft mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Er sieht mir in die Augen: "Ich bin nicht wieder zurück. Es geht mir gut, nur zurück bin ich nicht." [GA]
Die Jenga-Steine, die er mir gab, um mich zu stützen, nahm er sich selbst. Sie fehlen bei ihm. Mit einer einzigen Tat formte er unser beider Leben.
Du, der du mich liest,
wie soll ich anfangen. Ich bin anders gebaut, als der Rest der Welt. Vielleicht hat man bei mir einen elementaren Baustein vergessen oder so, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich nicht lebe. Ich tue es einfach nicht.
Und ich kann nicht erklären, warum ich nicht lebe. Ich kann es nicht. Leben bedeutet für mich nicht so viel wie für andere. Ich existiere nur noch. Existiere und spiele der Welt etwas vor, damit sie nicht sieht, dass ich dabei bin, sie zu verlassen.Es gibt keinen Grund, also hört auf, mich nach einem zu fragen. Akzeptiert einfach, dass jemand anders ist als ihr und ihr ihn nicht versteht. Ich verstehe schließlich auch nicht, wie ihr das Leben lieben und so meistern könnt.
Irgendetwas tief in meinem Inneren hält mich ganz einfach davon ab. Irgendetwas lässt mich dunkel sein, wie die Nacht, die ich dem Tag vorziehe und in der ich wach liege und von meinen Gedanken Kopfschmerzen bekomme. Nicht selten weicht mein Kissen auf, weil es so viele Tränen einsaugt.
Es geht nicht vorbei.
Irgendwann kann ich nicht mehr, nicht einmal mehr darüber schreiben.
Darf ich endlich gehen, wenn ich alles aufgeschrieben habe?
Wann darf ich gehen? Ich bin so müde, und so tun zu müssen als ginge es mir gut, greift mich noch mehr an. Ich werde niemals ich selbst sein, denn dann werde ich nicht mehr sein.
Luca
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WENN ER STIRBT | ✔︎
Ficção Adolescente"Wie lebt es sich mit zwei Herzen? Ach, du lebst ja nicht mehr.." (aus Kapitel1) Als Elina von Florians tödlichen Motorradunfall erfährt, bricht sie zusammen. Verliert sich in den Gedanken und Erinnerungen an ihren besten Freund und an ihre Liebe, d...