5. Suche deine Nähe *überarbeitet*

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"Elina."

Ich möchte nicht antworten.

"Elina, kann ich rein kommen?"

Ich kann nicht antworten.

Durch einen leichten Luftzug nehme ich das Aufschwingen meiner Zimmertüre wahr; eine Hand legt sich auf meine Schulter, die warme Hand meiner Mutter. Sie lässt sich neben mich auf den Boden sinken, streicht über meine fahle Wange. Ich starre.
Ich weiß, dass sie sich Sorgen um mich macht. Am liebsten würde ich ihr versichern, dass es keinen Grund dafür gibt, dass es mir gut geht, aber es reicht schon, dass ich versuche, mich selbst anzulügen. Und sie weiß es, sie sieht es. Sieht wie zerstört ich bin, sieht, dass ich mich verloren habe, vielleicht sieht sie, dass er mich mitgenommen hat..

Ich sage nichts. Möchte, dass sie mich einfach hier liegen lässt. Stumm versuche ich ihr meine Gedanken zu schicken. Dass es mir besser gehen wird, dass sie mich nur allein lassen muss, damit ich auf den Boden zurückfinde, auf dem ich liege. Und sie versteht mich. Es tut mir weh, in ihr traurig verzerrtes Gesicht zu blicken, aber ich war zuvor so lange stark, ich kann nicht mehr. Bitte, Mama, versteh, dass ich wieder werde, dass ich nur Zeit brauche. Die Zeit, mich zu verabschieden - von ihm, der einfach gegangen ist. Genommen wurde. Mit dem leisen Klicken der Türe entfernt sich mit ihr jegliche Realität um mich herum.

Noch kann ich den trocknenden Fleck unter meiner Wange in den Fransen meines Teppichs wahrnehmen. Trocknend. Weil meine Tränen versiegt sind, ausgetrocknet wie ein staubiges Flussbett im heißen Hochsommer.
Auch der Teppich verschwindet.
Die schwarzweißen Stämme unzähliger Birken tauchen vor mir auf. Ich weiß nur zu gut, wo wir uns befinden, diesen Ort werde ich nicht vergessen, wie ich all die anderen Orte, an denen wir Wir  waren, nicht vergessen werde.

Hier haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Eine kindische Wette in der achten Klasse - anfangs. Ich weiß noch genau, wie nervös ich war, meine Wangen müssen geglüht habe. Aber ich weiß auch, dass es dir nicht anders ging. Du wusstest, dass ich dir einen Kuss - nur auf die Wange - geben musste und obwohl es einfach klingt, ist es mir so schwer gefallen. Von Anfang an hatte deine Nähe diese Wirkung auf mich. Wir waren noch so jung und unerfahren, aber das Beste, das du machen konntest, war der sanfte Druck in die richtige Richtung, den du auf mein Kinn ausübtest und meine Lippen so deine trafen. Ganz leicht, schüchtern.

Ich liebe diese Erinnerung. Ich liebe sie, weil sie uns so gut widerspiegelt. Die scheuen Blicke, das zaghafte Lächeln. Und das Funkeln in deinen blau-grauen Augen, dass du nie verloren hast. Ich liebe diese Erinnerung, weil von einem Moment auf den anderen alles anders geworden ist, realer, greifbar, einfach da.

Erinnerungen. Helfen sie mir oder machen sie es nur schlimmer? Ich kann es nicht sagen. Sie zerreißen mich, das, das noch nicht zerrissen ist. Sie machen mir wieder überdeutlich, dass du gegangen bist und mit dir die tolle Zeit, die wir hatten. Aber genau das ist, was mein abgedunkeltes, abgeschirmtes Ich auch erhellt. Sie bringen dich mir wieder näher, sie lassen es mich noch einmal erleben. Und vielleicht zeigen sie mir auch, was alles erlebbar ist. Dass es sich zu leben lohnen könnte.

Als hätte ich Krämpfe schüttelt es mich, der Schmerz in mir sticht von innen gegen meine Hülle. Leblose Hülle? Nein. Dafür schmerzt es zu sehr. Ich lebe. Ich umschlinge mit den Armen meinen Oberkörper und versuche mich zusammenzuhalten.

Ich bin gebrochen.
Und doch bin ich nicht einfach nur gebrochen. Ich bin am Ende.

Wie soll ich überhaupt noch an irgendetwas glauben. Etwas wie das Leben oder die Hoffnung. Der einzige Gedanke, den ich habe, bist du. Bitte lass mich in deiner Nähe sein! Bitte lass mich mein Gesicht in deiner Halsbeuge verbergen, deinen Duft einziehen. Bitte lass mich meine Handfläche gegen deine drücken und bitte lass mich dann nie wieder los! Bitte..

Ich kann dich spüren. Und doch bist du nicht bei mir. Das tut so weh. Deine Nähe tut mir weh.


Lieber Florian,

siehst du die Birken genauso klar vor dir wie ich, wenn du zurückdenkst? Du denkst doch zurück oder? Ich meine, hast du denn jetzt überhaupt noch eine Vergangenheit, an die du dich erinnern kannst? Denn wenn nicht, an wen schreibe ich dann?! An jemanden, der mich verlassen hat, ohne es zu bedauern. An jemanden, der mich längst vergessen hat. An jemanden, der mich nie kannte.Das kann ich mir nicht vorstellen und wenn, dann ist es die schlimmste Vorstellung des Todes, die mir jemals kam! Wer ist man denn ohne seine Vergangenheit?!

   Ich möchte niemals vergessen, dass ich Freunde hatte, eine Familie, die mich liebt, ein Leben.. Auch wenn ich gerade dabei bin, zu verschwinden. Ich möchte mich erinnern.

Ich bin gut darin, Andere zu verletzen. Eine traurige Tatsache, die mir bewusst wird. Dich habe ich verletzt, weil es eine Zeit gab, in der ich mich von dir abgewendet habe. Mila verletze ich, weil ich mich ihr nicht mehr zuwenden will. Und meine Mutter verletze ich, weil ich nicht mehr zulasse, von ihr erreicht zu werden. Dabei versucht sie es so sehr. Es ist, als reiche sie mir die Hand, um mich aus den Wellen an Land zu ziehen, doch ich ergreife sie nicht. Ich höre sogar ganz auf, gegen die Wellen, die mich unter Wasser drücken wollen, zu kämpfen und verschwinde in einer Tiefe, in der mich niemand mehr erreichen kann. Wenn ich meinen Kopf hebe, sehe ich nur noch die Schatten derer, die sich über die Wasseroberfläche beugen und mit ihren Armen in das blau-schwarze Nass greifen und eine Berührung mit mir suchen. Alles, was sie zu fassen bekommen, ist das Wasser, das sie nicht halten können.

Während ich immer tiefer treibe und sich meine Augen an das difuse Licht hier unten gewöhnen, sehe ich nicht das Leben, das an mir vorbeizieht. Das Einzige, das vor meinen Augen in der dunklen Schönheit des Ozeans auftaucht, ist dein Gesicht. Deine Hände, die in die Richtung zeigen, aus der ich zu kommen scheine. Deine Lippen wie sie mir sagen wollen, dass ich schwimmen muss. Deine Augen, die mich anblicken und von denen ich die Enttäuschung ablesen kann, weil ich mich aufgebe.

Dabei will ich doch nur bis zum Grund. Der Grund, auf dem ich hoffe, dich zu treffen. Wir würden uns nebeneinander in den Sand setzen und gemeinsam nach oben blicken, wo in weiter Ferne die Wellen über unseren Köpfen zusammenbrechen.

Wieso versuchst du noch, mich davon abzuhalten, unterzugehen? Ich will nicht mehr schwimmen ohne dich, ich bin kein Schwimmer mehr. Ich bin ein Untergeher. Und ob du es willst oder nicht, du bist der Grund, der mich anzieht, du bist derjenige, der mich in die Tiefe zieht!

   Ich bin gebrochen.
Und doch bin ich nicht einfach nur gebrochen. Ich bin am Ende.

Vielleicht bin ich doch nicht am Ende, weil ich will, dass du mein Ende bist und ich bin nicht bei dir.
Aber ich werde am Ende sein.

   Verzeih mir, Flo.

Deine Elina


Das Video zu "Deine Nähe tut mir weh" von Revolverheld ist so schön und so traurig zugleich! Und Rilkes Gedicht gefällt mir total gut. Deshalb dachte ich, ich füge das Video mal an. Es passt ja auch irgendwie..

Im Jahr 2013 verunglückten 105.353 Menschen auf deutschen Landstraßen. 1.934 von ihnen starben.

xxEmma

WENN ER STIRBT | ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt