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Es war lange Zeit still zwischen uns und man hörte nur den Regen, der noch immer auf das Dach des Haltestellenhäuschens prasselte.

Ich war nicht besonders talentiert darin, Menschen durch Worte zu trösten, weshalb ich einfach nur die Hand des Typen hielt und sie immer wieder streichelte.

Hin und wieder sah ich auf in sein Gesicht, um zu schauen, ob er sich beruhigt hatte oder noch immer Tränen flossen.

Als diese aber langsam versiegten, lächelte ich schwach. "Geht's wieder?", fragte ich beinahe flüsternd und er nickte kaum merklich, bevor er unsere Hände löste, um sich die Tränen wegzuwischen.

"Was haben diese Leute denn von dir verlangt?", wollte ich zaghaft wissen. "Ich-...", setzte er an, doch wurde von einem Schluchzer unterbrochen. Sofort griff ich wieder nach seinen Händen, um sie weiter zu streicheln.

"Ich sollte-...", noch ein Schluchzen. "Ich sollte Menschen foltern", sagte er schließlich und seine Stimme brach am Ende.

"Was?!", rief ich erschrocken und er zuckte zusammen, da ich so laut gewesen war. Das konnte nicht sein! Foltern?!

"A-aber aber aber", stotterte ich fassungslos und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Als mir auffiel, dass es mir nicht gelang, einen vollständigen Satz zu bilden, atmete ich ein paar mal tief durch und versuchte, mich selbst zu beruhigen.

"Aber wieso denn?", schaffte ich es endlich das zu sagen, was ich sagen wollte. Der Typ seufzte und verband unsere Hände wieder miteinander, da ich seine vorhin losgelassen hatte.

"Es ist ihre Einnahmequelle. Sie entführen die Kinder von reichen Familien, foltern sie vor laufender Kamera und schicken die Videos anschließend an die Eltern, die natürlich Lösegeld zahlen sollen.

Doch diese abartigen Leute geben das Kind nicht einfach wieder zurück, wenn sie das Geld haben. Sie haben eine Regel. Je mehr die Eltern zahlen, desto weniger Schmerzen muss das Kind ertragen.

Nach diesem Prinzip foltern sie das Kind eine ganze Weile und lassen die Eltern mehr und mehr bezahlen. Irgendwann, wenn das Kind schon so gut wie tot ist, geben sie es zurück und holen sich ein Neues".

Ich war während seiner Erzählung ganz blass geworden. "Das ist furchtbar", hauchte ich mit zitternder Stimme und schluckte trocken.

"Ich weiß", meinte er traurig und strich mir über den Kopf. Dann drückte er mich an sich und ich versteckte meinen Kopf in seiner Halsbeuge. Das war möglich, weil ich inzwischen seitlich auf seinem Schoß saß.

So verharrten wir einige stille Sekunden, bis er wieder zu sprechen begann.

"Deswegen bin ich dir überallhin gefolgt. Deine Eltern sind sehr reich und ich hatte Angst, dass du vielleicht auch entführt wirst. Ich war immer in deiner Nähe, damit ich dich beschützen konnte", sagte er nachdenklich und ich umarmte ihn noch fester.

So war das also. Jetzt verstand ich endlich alles. Er wollte mir nie etwas Böses. Er war einfach um mich besorgt.

Gerührt löste ich mich von ihm und sah ihn an. "Danke", meinte ich und lächelte leicht. "Wofür?", fragte er verwundert.

"Na, dass du mich beschützt hast. Du warst wie mein persönlicher Bodyguard, von dem ich nichts wusste". Nachdenklich nickte er und strich mir wieder über den Kopf.

Doch auf einmal fiel mir an dieser ganzen Geschichte ein Detail auf, dass keinen Sinn ergab. Mein Lächeln verschwand und machte einer misstrauischen Miene Platz.

"Warte mal...", begann ich, "eine Sache verstehe ich nicht. Warum hast du nur mich beschützt? Warum hast du dich nicht auch um die anderen Kinder aus reichen Familien gekümmert und bist nur mir gefolgt?"

Erwartungsvoll schaute ich ihn an, da er sich ziemlich Zeit mit seiner Antwort ließ.

"Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?", fragte er schließlich und ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Was hatte das denn damit zutun?

"Nun ja, mir ist es noch nie passiert und ehrlich gesagt kann ich mir auch nicht vorstellen, dass man sich in eine Person verliebt, ohne ihren Charakter zu kennen...", antwortete ich nachdenklich.

"Verstehe. Ich glaube daran, aber auch nur, weil es mir passiert ist", meinte der Typ und ich wurde neugierig. "Bei wem denn?", fragte ich.

"Dazu erzähle ich dir die ganze Geschichte, sonst verstehst du es vielleicht nicht", schlug er vor und ich nickte.

"Du weißt ja, dass ich ein Taschendieb war. Sei bitte nicht böse, aber ich habe auch mal deinem Freund Jimin sein Portemonnaie geklaut", erzählte er und ich atmete überrascht ein. "Was? Geklaut? Oh..."

Dann hatte Jungkook ja doch recht gehabt. Ich erinnerte mich noch genau an diesen Nachmittag, an dem wir zu dritt länger in der Schule blieben und überall nach Jimins Portemonnaie suchten.

Er dachte, er hätte es irgendwo verloren, aber Jungkook vermutete einen Diebstahl. Und offenbar hatte er richtig gelegen.

"Das ist nicht so schlimm, ich bin nicht böse. Du brauchtest das Geld und Jimin hat mehr als genug", meinte ich versöhnlich und der Typ nickte dankbar.

"Jedenfalls habe ich in dem Portemonnaie nicht nur Geld, sondern auch ein Foto von euch dreien gefunden und dann ist es passiert...", erzählte er weiter, doch wurde zum Ende hin leiser.

"Was ist passiert?", fragte ich nach, da er nicht weitersprach.

"Ich habe mich Hals über Kopf in dich verknallt! Da auf diesem Foto...du hast so gelächelt und deine Augen...ich weiß auch nicht, warum du so eine Wirkung auf mich hattest, aber alles was ich wollte, war, dich kennenzulernen.

Also habe ich angefangen zu suchen. Überall habe ich nach dir gesucht und dich schließlich an deiner Schule gefunden. Doch als ich gesehen habe, was das für eine Schule war, habe ich realisiert, dass du ebenfalls aus sehr reichen Verhältnissen kommst.

Also habe ich mir geschworen, dich zu beschützen. Du solltest nicht dieses schreckliche Schicksal erleiden. Natürlich tun mir die anderen Kinder auch leid, aber du bist einfach...du und etwas Besonderes für mich.

Ich hätte selbst niemals gedacht, dass man für einen Menschen so starke Gefühle empfinden kann", sprudelte es alles nur so aus ihm heraus und man merkte deutlich, dass diese Gedanken schon viel zu lange in seinem Kopf herumkreisten.

Sie endlich auszusprechen war eine Erlösung für ihn. Doch für mich war es einfach nur ein Schock. Er liebte mich? Er liebte mich?! Was??

Diese Information musste ich erstmal verarbeiten...

Stalker | ᵗᵃᵉᵍⁱWo Geschichten leben. Entdecke jetzt