Twelve • Hiraeth

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Mitten in der Nacht erwachte ich schlagartig. Mein Herz raste und obwohl ich meine Augen aufgerissen hatte, konnte ich nichts sehen. Die tiefe Dunkelheit löste augenblicklich Angst in mir aus, den Urinstinkt des Menschen, die Furcht vor dem Unbekannten. Kombiniert mit den negativen Gefühlen des Albtraums, der mich bis eben noch verfolgt hatte, war das ein Desaster.

Mein gesamter Körper stand unter Strom.

Vor meinem inneren Auge sah ich noch immer die Bilder von eben. Darunter Chan, wie er lachte, wie er mich anstarrte, der Wahnsinn, der in seinen Augen glänzte. Ich war eingesperrt gewesen, in seinem Zimmer, mit ihm allein. Er hatte mir seine Gefühle gestanden, sein Herz ausgeschüttet, ein Messer gezückt. Noch zu gut erinnerte ich mich an das Blut, das von seinem Finger getropft war, als er die scharfe Seite des Messers über seinen Finger hatte gleiten lassen. Der Kloß, der in meinem Hals steckte, raubte mir den Atem, mein Körper war angespannt, regelrecht vereist.

Angst. Furcht. Das war, was in meinen Knochen festsaß. Ich hatte Angst, jeden Moment zu sterben.

"Felix...?" Hyunjins raue Stimme ließ mich zusammenzucken und sogleich kehrte ich in die Realität zurück. Mehrfach blinzelte ich und schnappte nach Luft, als sich seine Arme vorsichtig um meinen schmächtigen Körper schlangen. "Baby, warum weinst du denn?"

Verwirrt schaute ich meinen festen Freund an und fasste mir an die Wange. Tatsächlich spürte ich direkt die Nässe und langsam sickerte diese Information in mein Gehirn. Ich weinte. Dieser Albtraum hatte mir Tränen entlockt, wenngleich ich für gewöhnlich hohe Kontrolle über meine Gefühle besaß. Aber das war zu viel gewesen. Viel zu viel. Dieser Traum hatte mir den Moment vor Augen geführt, in dem ich mein letztes Zuhause verloren hatte. Es war der letzte Tag gewesen, an dem ich wirklich glücklich gewesen war.

Schwer schluckte ich. Heute übernachtete ich zum ersten Mal bei Hyunjin und das versetzte meinen gesamten Körper in Aufruhr. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich wieder wohl, ich hatte ein neues Zuhause gefunden. Südkorea war niemals eine Heimat in meinen Augen gewesen, doch Hyunjin machte dieses Land zu einer. Wahrscheinlich hatte das den Traum ausgelöst.

Immerhin brannten die Schnitte in meinem Herzen wie Feuer, die durch dieses Gefühl einst ausgelöst worden waren.

Ein Heulkrampf überfiel mich. Es war weder meine Entscheidung, noch mein Wunsch, jedoch konnte ich mich einfach nicht zurückhalten. Es tat viel zu sehr weh, Erinnerungen von damals quälten sich durch meinen Kopf. Ich wollte neu beginnen, mein Leben umschreiben, allerdings war das Überschreiben von Assoziiationen... schmerzhaft. Anstrengend. Grausam. Es sollte alles aufhören, einfach nur aufhören. Ich wollte, dass meine Vergangenheit verschwand und ich endlich mein neues Leben leben durfte.

Chan sollte mich nicht länger in seiner Gewalt haben dürfen.

"Es... es tut mir so leid... ich hatte... einen Albtraum", schluchzte ich. Hyunjin hatte sich mittlerweile mehr aufgesetzt, sein nackter, warmer Oberkörper spendete mir so viel Trost und Geborgenheit. "Du bist mein neues Zuhause... aber... ich vermisse mein altes... Auch wenn ich das nicht will, aber ich vermisse es..."

"Das ist okay, Felix. Es hat sich viel verändert und es ist sicher schwer, das alles zu verarbeiten. Ich verstehe dich. Du musst dich dafür nicht entschuldigen. Niemals würde ich dir das übel nehmen", versprach er mir. Zärtlich platzierte er kleine Küsse unterhalb meines Ohres, mein Kiefer entlang und über mein ganzes Gesicht. Jede federleichte Berührung entfernte mehr und mehr von den Tränen, die noch immer meine Wange zierten. Er liebte mich und er hinterließ nichts anderes außer Wärme während diesen Küssen. Schwach begann ich zu lächeln.

Ich hätte mir keinen besseren, festen Freund wünschen können.

"Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde. Chan und ich sind zusammen aufgewachsen, deswegen tut es so sehr weh, dass ich nie wieder dieses blinde Vertrauen haben kann", murmelte ich frustriert. Ich schloss meine Augen und lehnte meinen Kopf an Hyunjins Schulter, welcher verstehend nickte. Zärtlich platzierte et einen Kuss auf meiner Stirn.

"Ich weiß das, Baby. Das ist sehr hart. Aber du bist stark, darum kannst du das überstehen. Du hast daraus gelernt. Und ich helfe dir in Zukunft, so gut ich nur kann." Hyunjins Lächeln glich der Wärme der Sonne. Augenblicklich verschwanden all meine negativen Gedanken und für einen Moment existierten nur wir beide. Ich starrte ihn an, dankbar und erleichtert. Niemand war so sehr in der Lage, mich zu retten, wie er es war.

Mein wunderschöner Held.

"Danke, Hyunjin... Eines Tages zeige ich dir Australien, versprochen."

Langsam beugte ich mich vor, damit ich meine Lippen auf seine drücken konnte. Es war ein schwacher, vorsichtiger Kuss, und dennoch explodierte ein Feuerwerk in meinem Körper. Unser erster Kuss. Das war unser erster Kuss. Es war mein erster Kuss. Und er könnte nicht schöner sein. Die Tränen waren versiegt, die bedrohliche Kälte war verschwunden. Es waren nur wir beide. Der Albtraum hatte geendet.

Hyunjin war wirklich mein neues, glückliches Zuhause. Ich wollte ihn nie wieder hergeben.

★★★

Hiraeth:
A homesickness for a home you can't return to or that never was one.

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