Two • Heartworm

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Manchmal erinnerte ich mich mitten im Unterricht an meine Vergangenheit. Jedes Mal, wenn das passierte, verlor ich mich im Gedanken und hörte meiner Lehrerin nicht mehr zu. Die Erinnerung war einfach zu präsent, zu einnehmend. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte, denn die Sehnsucht nahm bereits alles in mir ein. Sie zerrte mich aus dem Zimmer, aus meinem sicheren Hafen hinaus.

Mein Atem wurde flacher.

Da war sie wieder. Die Wärme, die ich einst jeden Tag erhalten hatte. Was auch immer passiert war, wer auch immer geglaubt hatte, es wäre eine gute Idee, mich zu Boden zu bringen, immer war diese Wärme bei mir gewesen. Sie hatte mich getröstet und mich wieder aufgebaut, sie hatte mir dabei geholfen, auf beiden Beinen stehen zu können. Niemand hatte mir länger weh tun können und all diese Probleme waren erträglicher gewesen. Zu atmen und zu leben war erträglich gewesen.

Unfähig, mich noch irgendwie zu konzentrieren, meldete ich mich und erklärte knapp, dass ich Luft schnappen musste. Meiner Lehrerin blieb nicht einmal genug Zeit, mir jemanden mitzuschicken, da war ich bereits nach draußen gestürmt. Ich spürte mein Herz klopfen, ich hörte es laut schlagen. Immer schneller, kombiniert mit der tiefen Panik, die mein Innerstes krampfartig zusammenzog. Meine Augen begannen zu brennen und auch in meinem Hals fühlte es sich auf einmal so an, als wäre dort etwas. Etwas, was nicht dorthin gehörte. Schnell schüttelte ich meinen Kopf, wieder und wieder schüttelte ich meinen Kopf.

Nein, nicht hier, nicht jetzt.

Doch sie war da. Die Erinnerung. Die Sehnsucht. Und begleitet wurde sie von Schmerz. Schmerz, der mir den Atem raubte. Schmerz, der meine Sicht verschwommen werden ließ. Erste Tränen flossen bereits über meine Wangen, noch bevor ich die Tür zur Schultoilette aufgerissen hatte. Ich glaubte, dass mein Herz jeden Moment stehen bleiben könnte, dabei wusste ich längst, dass dieser Gedanke zu schön für die Wahrheit war.

Hastig drückte ich eine Kabinentür auf und verkroch mich in diesem kleinen, sicheren Raum. Unkontrolliert bahnten sich die Tränen ihren Weg über meine Wangen und leise schluchzend wischte ich sie weg. Ich ließ mich auf den Deckel der Toilette nieder, noch immer zitternd, unfähig, länger zu stehen oder normal zu atmen. Dann zerrte ich meinen Ärmel hinauf, panisch, verängstigt. Sie mussten einfach da sein, sie mussten-

Da waren sie.

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung verließ meine Lippen, als ich die Narben erkannte, die auf meinem Arm hinterblieben waren. Die damaligen Stichwunden, als mein Arm operiert worden war, sie waren da. Vernarbt. Vergangen. Sie zeugten davon, dass es vorbei war, dass es mir wieder besser ging. Mein Arm war wieder gesund. Mir sollte es gut gehen. Aber die Sehnsucht nach seiner Wärme, sie blieb. Trotz allem, was er getan hatte, trotz dessen, dass er mir weh getan hatte - stets war er mein Schutzschild gewesen, er hatte mich vor dieser grausamen Welt beschützt.

Erneut schluchzte ich auf.

Wie hatte ich mich so sehr in einem Menschen irren können?

Dabei war ich sicher, ich lebte in einem anderen Land, mein Leben hatte sich verändert. Doch die Einsamkeit nagte weiter an mir. Und trotz den Narben... wünschte ich ihn mir manchmal zurück. Was wäre passiert, wenn er nicht gegangen wäre? Wären wir immer noch... Freunde?

Mit meinem Ärmel wischte ich die Tränen aus meinem Gesicht, doch noch immer wollten sie nicht versiegen. Aber dann - ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich nicht alleine hier war - schob jemand eine Packung Taschentücher unter der Kabinentür hindurch. Irritiert blinzelte ich und versuchte erneut meine Sicht zu klären, las, was auf dem obersten Taschentuch stand.

Hey, uhm... ich weiß nicht, was gerade bei dir los ist, aber ich wollte dir sagen, es ist okay zu weinen, ja? Lass es heraus, dann wird es dir besser gehen. Hiermit kannst du dann auch wieder deine Tränen trocknen und... na ja, wenn du reden magst, hier ist meine Nummer:
XXXXXXXX58
-HHJ

Mit großen Augen starrte ich die Nummer an, die Worte, die dort geschrieben standen. Für andere mochte es vielleicht belanglos oder komisch erscheinen, aber mir bedeuteten diese Worte viel. Zu wissen, dass sich tatsächlich jemand um mich sorgte, machte meine Einsamkeit ein bisschen weniger einsam.

Schwach lächelte ich. Eine neue Freundschaft würde mir sicher gut tun. Vielleicht sollte ich diese Person anschreiben.

★★★

Heartworm:
A relationship or friendship you can't get out of your head which you thought faded long ago

Eudaemonia ★ HyunlixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt