In der Zelle, in der Moira hockte, regierten Dunkelheit und Kälte. Nur ein stetes Tropfen drang durch die Stille an ihre Ohren – das einzige, das ihr neben ihrem Brustkorb, der sich mit jedem Atemzug hob und senkte, versicherte, dass sie noch lebte.
Ob es wohl regnet? Wie viel Zeit ist vergangen? Sie konnte es nicht sagen. Nach ihrer Bloßstellung vor dem Blinden Richter und den Hämomanten war sie hier eingesperrt worden. Davor hatte man ihr bereits alles genommen, was sie besessen hatte. Seitdem hatte sie das Tageslicht nicht mehr gesehen.
Aber das spielte keine Rolle mehr – nichts hatte mehr eine Bedeutung.
Müde zog sie die Knie an und stützte sich gegen das Gemäuer, spürte den rauen Stein ihres Gefängnisses im Rücken. Die Kleidung, die sie trug, war alles, was ihr geblieben war.
Sie war eine Überlebende gewesen. Eine Schiffsbrüchige, die gegen die Fluten angekämpft und sich auf eine winzige Insel gerettet hatte, mit gerade genügend Wasser und Nahrung, um am Leben zu bleiben.
Eliza. Sie war stets ihr rettender Anker gewesen. Ihre Sonne in einer Welt der ewigen Nacht. Eine einsame Sandbank inmitten eines Ozeans.
Bis auch diese Insel unter Moira von den Kraken in die Tiefsee gerissen worden war. Nun drohte sie zu ertrinken. Aber das Wissen darum, dass die Insel noch existieren könnte, wenn sie nie versucht hätte, davonzukommen, verursachte ihr den größten Schmerz.
Denn Eliza war fort. Nach ihrer Festnahme waren sie voneinander getrennt worden. Seitdem hatte sie kein Lebenszeichen mehr von ihr vernommen.
In der Ferne quietschte Metall. Schritte hallten durch die steinernen Gänge wie bleierner Donner, doch obwohl sie näher zu kommen schienen, hob Moira nicht den Kopf. Niemand, der kam, würde sie aus diesem Scherbenmeer herausholen – im Gegenteil. Mit jeder Regung würden die Splitter nur noch tiefere Wunden in ihr Herz schneiden.
Aus den Augenwinkeln sah sie den Schein einer Fackel, der vor ihre Zelle fiel. Eine Wache war stehengeblieben und deutete in ihre Richtung. Der Mann, der ihm folgte, wartete geduldig, bis er die Ewige Flamme in einer Halterung an der Wand platzierte, die Kerkertür aufsperrte und sie schließlich aufstieß. Als hätten das Klappern der Schlüssel und das anschließende Knacken des Schlosses eine uralte Erinnerung geweckt, löste sich Moira aus ihrem Dämmerzustand. Neugierig schielte sie hinüber.
"Danke. Ich melde mich, sobald ich etwas brauche."
Bei den Worten des Schwarzen Schnitters salutierte der Wachmann und verschwand in den Weiten der Gänge. Als ihr Blick auf ihn fiel, sträubten sich umgehend Moiras Nackenhaare. Die silberne Hungerswölfin begleitete ihn dieses Mal nicht, aber den unverwechselbaren blauen Schal, der die Farbe seiner Augen hatte, trug er wie immer.
"Du brauchst keine Angst zu haben", sagte er ruhig. Sprach er etwa mit ihr? "Ich bin nur hier, um zu reden."
Es war dieselbe Stimme, dasselbe nachtschwarze Haar, derselbe Mann, der ihr die Klinge aus Obsidian an die Kehle gesetzt hatte - und von dem sein Kamerad behauptete, dass er den Plan ausgeheckt hatte, um Garrit dazu zu bewegen, sie zu verraten.
Bei dem Gedanken verengten sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen und ein bitterer Geschmack legte sich auf ihre Zunge. Aber es war nichts im Vergleich zu der Wut, die in ihrem Inneren brodelte.
"Ich kann verstehen, wenn das auf dich befremdlich wirkt." Nach anfänglichem Zögern trat er schließlich ein. Die Zellentür lehnte er hinter sich an. "Alles, was ich will, ist dir ein paar Fragen zu stellen."
Für eine Sekunde überlegte sie, ob sie es schaffen konnte, an ihm vorbei durch den offenen Türspalt zu fliehen. Bis sie sich daran erinnerte, wer da vor ihr stand, und dass sie schon einmal versucht hatte, einem von ihnen einen Dolch in die Brust zu stoßen - mit wenig Erfolg. Hastig wandte sie sich ab und starrte stattdessen auf ihre Finger, mit denen sie krampfhaft ihre Knie umschlungen hielt.
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Schattenkinder
FantasyIn Ta'ehran sind Tod und Gewalt allgegenwärtig. Wer nicht von Geburt an über magische Fähigkeiten verfügt, über den herrschen die Blutmagier. Zusammen mit den Blinden Richtern urteilen sie darüber, wer entbehrlich ist, und wer es wert ist, zu leben...